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Man spricht nicht von Gemeinderatswahlen

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In Kürze werden die Bürger Frankreichs aufgerufen sein, 35.000 Bürgermeister und 450.000 Gemeinderäte zu wählen. Uber eine Million Kandidaten bemüht sich um diese Ämter. Von besonderer Wichtigkeit dürfte der Urnengang in Paris sein, wo seit Jahrhunderten zum erstenmal wieder ein Stadtoberhaupt bestellt werden soll. Denn bisher wurde die Metropole vom Staat verwaltet, und ein beamteter Präfekt, der dem Innenminister unterstellt war, bestimmte die großen Linien der Kommunalpolitik. Man sollte annehmen, daß dies die Wahlpflichtigen veranlassen müßte, an den politischen Diskussionen teilzunehmen. Aber bisher erwärmte sich nur ein relativ kleiner Kreis von Berufspolitikern dafür. Die Masse der Bevölkerung diskutiert mit Leidenschaft andere Ereignisse, die seit den Weihnachtstagen Schatten über die Regierung werfen. An sich sind diese Ereignisse in keiner Weise miteinander verbunden. Wenn trotzdem die Debatte darüber weitergeführt wird, läßt sich daraus der Schluß ableiten, daß es sich hier um prinzipielle Fragen handelt, die ein weites Echo in der Bevölkerung gefunden haben.

Am Vorabend des Christtages wurde ein bekannter Politiker, der mehrfach Staatssekretär gewesen war, der Fürst de Broglie, auf offener Straße ermordet. Einige Tage später erklärte Innenminister Poniatowski, daß es der Polizei in relativ kurzer Zeit gelungen sei, die Täter zu entlarven. Doch warf das Fragen auf. Wieso verkehrte der Exminister mit höchst dubiosen Leuten, die in undurchsichtigen internationalen Geschäften große Summen verdienten? Alsbald wurde herumgerätselt, in welchem Ausmaß Fürst de Boglie Kontakte zu Kreisen pflegte, die zur politischen Unterwelt gehören. Es ist selbstverständlich, daß die erste Garnitur der Regierungspartei mit solchen Praktiken nichts zu tun hat. Die Gaullistische Partei ist seit Mai 1958 führend. Dabei haben sich Beziehungen zu den verschiedensten Milieus gebildet, was wieder zur Folge hatte, daß Abenteurer aller Schattierungen am Rande der Innenpolitik auftauchten.

Der Gaullismus ist überdies das Produkt des Widerstandes der Jahre zwischen 1940 und 1944. Damals konnte man nicht zimperlich sein und mußte jede Hilfe annehmen. In den darauffolgenden Kolonialkriegen tauchten ebenfalls Gestalten auf, die in der zwielichtigen Atmosphäre des Indochina- und Algerienkonflikts ihre Karriere begonnen hatten, und es bildeten sich Kumpaneien, die bis zum heutigen Tag fortdauem. Wenn auch der Tote vom 24. Dezember sich keineswegs als Beschützer zwielichtiger Gestalten fühlte, geht doch aus den bisherigen Ergebnissen der Untersuchung hervor, daß Fürst de Broglie in seinem Umgang nicht gerade wählerisch war.

Hat also die Ermordung des Fürsten hohe Wellen geschlagen, so wurde die Verhaftung und kurz darauf die Freilassung eines arabischen Terroristen zu einer Staatsangelegenheit mit großem internationalem Echo hinauf- Uzitiert. Maßgebende Staatsmänner, wie der frühere französische Ministerpräsident Couve de Murvill kritisierten heftig den Entschluß der Regierung, Abu Daud freizulassen. Die internationale und insbesondere die angelsächsische Presse sprach von einer Kapitulation Frankreichs. Auch hier mußte die öffentliche Meinung zur Kenntnis nehmen, daß ein moderner Industriestaat dem Terrorismus gegenüber nahezu hilflos ist. Die französische Regierung spricht zwar immer wieder von absoluter staatlicher Souveränität, doch sind alle Machtmittel des Staates, einschließlich der Atombewaffnung, unnütz, wenn es darum geht, die Nation vor einigen Palästinensern zu schützen. Die Polemiken dauern fort, aber bisher wurde keine Alternative gefunden, die es dem Staat gestatten würde, sein Gesicht zu wahren.

Schließlich trägt auch noch ein Prozeß dazu bei, d ie Nation bis ins Innerste aufzurühren. In der friedlichen Stadt Troyes spielte ein 25jähriger Handelsreisender, der auf bestialische Weise ein siebenjähriges Kind tötete, mit seinem Kopf. Bei der Hauptverhandlung in Troyes handelte es sich wieder einmal um das Problem der Todesstrafe. Es ist bekannt, daß sowohl Georges Pompidou als auch Giscard d’Estaing Gegner der Todesstrafe waren und sind. Trotzdem verweigerte der jetzige Staatspräsident im Sommer des vergangenen Jahres einem Kindesmörder die Gnade. In seiner letzten Pressekonferenz machte Giscard d’Estaing auf die Tatsache aufmerksam, daß die Todesstrafe in Frankreich gesetzlich verankert sei und er als Hüter der Verfassung und der Gesetze darauf Rücksicht nehmen müsse. Im Parlament liegen zwar mehrere Gesetzesentwürfe, die eine endliche Abschaffung der Todesstrafe befürworten. Die Mehrheit der Nation aber verlangt, daß der Henker auch weiterhin sein Amt ausübe.

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