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Warten auf Tindemans

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Liebhaber modernen Theaters erinnern sich, welche Sensation die Aufführung von Becketts „Warten auf Godot“ im Paris der fünfziger Jahre hervorrief. Die Inszenierung wurde nicht nur nach allen Regeln der Kunst von der Kritik zerpflückt, man zog auch Parallelen zur augenblicklichen politischen Situation. Im allgemeinen hieß es, die zwei Bettler des Schauspiels seien das Symbol für die französische Nation. Diese erwarte ebenfalls eine Art von Erlöser, eine mystische Figur, die je nach dem Geschmack des einzelnen General de Gaulle oder Josef Stalin sein konnte. Betrachtet man das Europa des Frühlings 1975, so taucht die Erinnerung an das avangardisti-sche Werk wieder auf. Auch Europa scheint gegenwärtig sehnsüchtig auf einen Mann zu hoffen, der in der Lage ist, der festgefahrenen Integrationspolitik eine neue Richtung zu geben. Eine solche rettende Gestalt ist personifiziert in dem belgischen Ministerpräsidenten Leo Tindemans. Von diesem gemäßigten flämischen Christdemokraten sollen jene Impulse ausgehen, die seit den beiden letzten ergebnislosen Gipfelgesprächen der neun Staats- und Regierungschefs erwartet werden. Der

Belgier, vielfach als Dirigent des „europäischen Orchesters“ gerühmt, wurde nämlich vom höchsten Gremium der EWG beauftragt, Pläne für eine europäische Verfassung auszuarbeiten.

Die vielen schönen Reden, gehalten am 9. Mai anläßlich der Feier zum 25jährigen Gedenken an die Schuman-Planerklärung, gehören bereits der Vergangenheit an. Besonders an der Seine wird jetzt europäische Gewissenserforschung betrieben. Paris ist sich der höheren Verantwortung innerhalb der EWG bewußt. Großbritannien steht nur mit einem Fuß im gemeinsamen Haus und ist, ebenso wie Italien, von einer schweren Wirtschaftskrise bedroht. Die französischen Diplomaten flüstern ihren Gesprächspartnern zu, de Gaulle habe mit seinem Veto gegen Englands Aufnahme in die EWG eben doch recht gehabt. Die V. Republik ist nicht bereit, dem Kabinett Wilson weitere Zugeständnisse zu machen und über die Resultate der Dubliner Gipfelkonferenz hinauszugehen. Aus diesen Erwägungen erklärt sich der Wille Giscard d'Estaings und seiner Mitarbeiter, die Bindungen mit Bonn auszubauen. Unter diesem Gesichtspunkt sind aber

auch zwei Gesten zu verstehen, die der französische Staatspräsident mit der Souveränität eines de Gaulle machte. Ohne sein Kabinett zu befragen, verfügte er die Abschaffung der Feiern des 8. Mai, der Feiern also, zur Erinnerung an die definitive Niederlage des Dritten Reiches. Diese Maßnahme stieß keineswegs auf allgemeine Zustimmung. Sie gestattete es der kommunistischen Partei, eine nationalistische Großoffensive einzuleiten. Die Gelegenheit war zu günstig, um eine solche Karte nicht auszuspielen, nachdem alle Versuche der KPF gescheitert waren, die Arbeiterschaft in nennenswertem Umfang zu mobilisieren. Die hartnäckigen Streiks von 1974 (in der Postverwaltung) und von 1975 (in den Automobilwerken Renault) endeten mit einem Mißerfolg für. .die Gewerkschaften und die sie unterstützenden Linksparteien. Die zahlreichen französischen Kameradschaftsverbände, wie die Traditionsorganisationen der Widerstandsbewegung, der Deportierten und ehemaligen KZ-Häftlinge, meistens konservativ eingestellt, nahmen aber nunmehr die Abschaffung der Feiern mit Befremden, ja, mit Ablehnung zur Kenntnis. -

Dagegen wird die zweite Aktion Giscard d'Estaings, die das Ziel verfolgt, den Franc wieder in die etfro-päische Währungsschlange einzuschleusen,' von den Finanz- und Wirtschaftskreisen der Metropole mit Freude begrüßt. Man ist sich in Paris dessen zwar bewußt, daß der gordische Knoten noch nicht durchschlagen ist. Also schaut alles auf den brillanten belgischen Ministerpräsidenten, ob dieser etwa die Quadratur des Zirkels bewerkstelligen könnte.

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