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Europa muß warten

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Zwei Tage lang versuchten sich am Rhein zwei Nachbarländer näherzu- kommen. Zwei Tage lang zitierten Kiesinger und Pompidou die Geister Europas und das Erbe ihrer großen Vorgänger Adenauer und de Gaulle. Damals, als im Deutsch-Französischen Vertrag eine eiserne Achse zwischen Paris und Bonn geschmiedet werden sollte, hofften nicht allein Optimisten auf einen ganz harten Kern einer neuen europäischen Entente cordiale.

Seither ist viel Wasser in der Seine und im Rhein geflossen. De Gaulle offenbarte sich zunehmend als Usurpator eines neuen Frankreichmythos, der über kurz oder lang mit dem Europabild von Frankreichs Nachbarn kollidieren mußte. Deutschland wiederum rutschte in die Fünferfront, die sich in der EWG gegen de Gaulle aufbaute.

Lustlos zogen sich die wechselseitigen und als Zwang empfundenen deutsch-französischen Gespräche dahin, weil sie der Vertrag eben vorsah, den man schon längst nicht mehr einzuhalten bereit war und der im Grunde der Realität nicht entsprach. Entspricht er nach dem Szenenwechsel in Paris nun doch wieder einer gewandelten Realität?

Es ist keine Frage, daß der Versöh- nuagscharakter dieses wichtigsten Papiers der sechziger Jahne in Europa gerade im Gedenkjahr des zweiten Weltkrieges neuerlich beschwörende Wirkung erzielt hat. Deutsche und Franzosen haben längst erkannt, daß die Einkreisung Europas durch Amerikas Finanzkraft und Technologie einerseits sowie durch Rußlands militärische Bedrohung anderseits europäische Uberlebenschancen als weltpolitische Potenz nur dann möglich macht, wenn die Fesseln des Provinzialismus, eines anachronistischen Merkantilismus und der internationalen Reaktion der Beamtenhierarchien gebrochen werden.

Denn wie steht Europa knapp vor dem Eintritt in das achte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts noch immer da? Als nach der Franc-Abwertung der gemeinsame Agrarmarkt der EWG suspendiert wurde, hat dieser wichtigste Bestandteil des Marktes die Technokraten in Brüssel neuerlich gestoppt.

In Währungsfragen ist von einer Abstimmung keine Rede. Ja, es war lange Zeit nicht einmal klar, was Frankreichs Finanzminjster Giscard d’Estaing eigentlich von Deutschland als Gegendienst erwartete: Aufwertung oder höchstens wohlwollende Sympathie für den Pariser Schritt.

Die politische Union Europas wiederum ist steckengeblieben. In Italien bereiten sich die Kommunisten auf eine Regierungsbeteiligung vor, in Bonn spekulieren künftige Koalitionspartner auf Ostofferte in der Außenpolitik, die zumindest ein Disengagement an der Europafront mit sich bringen dürften, und die orthodoxen Gaullisten mit ihren nationalistischen Träumen, in denen bestenfalls ein „Europa kleiner Vaterländer” unter dem guten und biederen Hausvater Frankreich spukt, gehen rüstig im Elyseė aus und ein.

Die „kleinen” Europäer in und außerhalb der EWG spekulieren primäi auf ihren geschäftlichen Profit unc erklären sich taxfrei für „entschieden zu schwach” für einen energischen Schritt auf der Straße nach Europa, den die Großen schon aus Prestigegründen mitmachen müßten Europa ist chancenloser denn je.

Offensichtlich ist der Besuch Pompidous ein Besuch zur Unzeit gewesen. Die Partnerländer waren wieder einmal „nicht im Takt”, wie die „Welt” treffend vermerkte.

Denn Deutschlands Zukunft entscheidet sich erst am 28. September. So genoß Kiesinger (und im Schatten auch Brandt) die Glorie weltmännischer Kontakte, die den kleinen Michel an der Wahlurne beeindrucken sollen. Kiesinger konnte Pompidou nicht sagen, ob er nach dem Wahlsonntag allein oder mit welchem Partner er den Weg der deutschen Außenpolitik bestimmen wird.

Und so mußten auch die französischen Gäste am Rhein zur Kenntnis nehmen, daß es dort zwei nicht gerade kongeniale Konzepte gibt. Zieht der Trumpf der CDU/CSU (mit welchem Partner auch immer), dann bleibt es vorläufig bei den europäischen Kernplänen, die den französischen noch am ehesten entsprechen, dann erst wird mit Bedacht das Tor für England in der EWG auf gemacht, und dann werden die Fühler in Richtung Osten nervös und hur kurz reagieren. Zieht die Karte SPD plus FDP, dann steht eine Neuorientierung der deutschen Außenpolitik im Blatt. Das kann bis zu einer Anerkennung der „DDR” gehen, ja zu •einem tiefgreifenden Arrangementversuch mit dem Osten.

Arrangements aber gehen normalerweise auf jemandes Kosten. Im gegebenen Fall würde ein Kanzler Brandt die Engländer und alle Beitrittswilligen in die EWG zu holen versuchen, auch wenn das politische und militärische Urkonzept der Gemeinschaft restlos verwässert werden würde. Dann würde man in Bonn auch auf die „fortschrittlichen” Kräfte in Frankreich spekulieren und sich nicht allzusehr mit den gaullistischen Gegebenheiten abfin- den. Das weiß Pompidou.

Er hat aber auch den ungeduldigen Wahlkämpfern am Rhein klargemacht, daß er zwar die von Kiesinger vorgetragene Idee von der „weltpolitischen Solidarisierung” unterstützt, aber keine Zusagen abgeben will. Denn Pompidou, Chaban-Del- mas und Giscard d’Estaing haben genug mit ihrer Innenpolitik zu tun, anstatt sich die Pfoten mit der Außenpolitik gleich zu Beginn zu verbrennen. Nur allzu deutlich steht das Menetekel der de-Gaulle-Ära vor den Aügen der Pariser Realisten, der den absoluten und konsequenten Vorrang der Außenpolitik durchhielt. Fast schockartig sind die Gemächlichkeit und Vorsicht an die Stelle hochfliegender und ehrgeiziger Pläne gestellt worden.

Denn die neuen Männer in Paris müssen vor allem eines vermeiden, was ihre zukünftige außenpolitische Bewegungsfreiheit am meisten einengen könnte: einen Prestigeverlust in der Innenpolitik. Gewerkschaften und orthodoxe Gaullisten suchen gemeinsam nach der schwachen Stelle des Spar- und „Anstrengungsprogramms”, das Giscard d’Estaing Frankreich mit der Abwertung und den Restriktionen verordnet hat. Wenn Paris eine Konferenz der EWG-Regierungschefs im Herbst vorschlägt, dann darf Frankreich an diesem großen Verhandlungstisch nicht blamiert werden. Vor allem darf man dann noch keine endgültige Gretchenfrage stellen, ob man die . Engländer schon morgen hereinläßt, i Und das hat Pompidou dem Kanzler . auf Abruf in Bonn auch gesagt. Europa muß auf bessere Tage warten.

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