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Blick über den Rhein

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Seit dem Abgang de Gaulles verneinte das Regime Pompidou-Cha- ban-Delmas den Primat der Außenpolitik und legte der Nation das Konzept einer erneuerten Gesellschaft vor.

Wohl hat der jetzige Staatschef Georges Pompidou eine Festigung der EWG in Aussicht gestellt, zeigte sich bereitwilliger, die Kandidatur Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt zu überprüfen, er vermied aber deutlich eine zu scharfe politische Zäsur. Nach wie vor wurde ein gutes Einvernehmen zur Sowjetunion gepflegt, wurden die Ereignisse in der Tschechoslowakei verharmlost. Man überläßt es den Sozialisten, sich über die Bedeutung der Prager Vorgänge mit der kommunistischen Bruderpartei herumzustreiten.

Die Kontakte mit Moskau erhielten einen merkwürdigen Akzent durch die Wachablöse am deutschen Rhein.

Sympathie für Brandt

Der Wahlkampf in der Bundesrepublik sowie die Resultate des 28. September wurden in Paris mit größter Aufmerksamkeit registriert. Aus allen maßgebenden Pariser Zeitungen ging hervor, daß trotz korrekter Neutralität die Sympathien eindeutig Brandt und Schiller galten. Dazu mag beigetragen haben, daß die SPD im westlichen Ausland eine ebenso vernünftige wie kluge Pressepolitik betrieb und sich ein günstiges Image schaffen konnte. Es mag verwunderlich sein, daß die mächtige

CDU diese Aspekte eines Wahlkampfes vergaß und nicht rechtzeitig als die Partei der neuen Ideen, der dynamischen Sozialreformen und einer originellen europäischen Außenpolitik auftrat.

Natürlich war die französische Zuneigung mit dem Wunsch verbunden, daß Wirtschaftsminister Schiller weiterhin ein Ministerium verwalten werde, um die sehnsüchtig erwartete Aufwertung der DM durchzuführen. Der Vorsitzende der SPD Brandt verstand es, das schwere Erbe seines Vorgängers Schröder zu beseitigen und eine Atmosphäre des Vertrauens zwischen Bonn und Paris herzustellen, die beim Besuch Pom- pidous in der Bundesrepublik Anfang des Herbstes bestätigt wurde.

Bonn — Zwerg und Riese!

Da nun das Team Brandt-Scheel zumindest für eine gewisse Zeit die Geschicke der größten europäischen Wirtsdhaftsmaoht leiten wird, blickt Paris über den Rhein und bis nach Moskau, um der geänderten Situation gerecht zu werden. Eines steht in Paris fest: die Einheit des deut schen Volkes ist vorläufig nicht zu realisieren und würde das mühsame Gleichgewicht der europäischen Kräfte ins Wanken bringen. Sowohl die Bundesrepublik wie die DDR sind in den jeweiligen Einflußzo- nen des Westens und Ostens zu den wichtigsten Wirtschaftsmächten herangewachsen.

Man nimmt in Paris an, daß es Ulbricht war, der die Sowjetunion geradezu zwang, den Einmarsch in die Tschechoslowakei zu organisieren und den gefährlichen Bazillus Dub- öek zu beseitigen. Auf der anderen Seite ist in Westeuropa keine wirt- schaftspölitiscbe Maßnahme denkbar, die nicht in irgendeiner Form die Zustimmung Bonns findet oder mit den deutschen Behörden vorher abgesprochen wurde. Wohl wird die Bundesrepublik noch als „politischer Zwerg“ deklariert, aber der „wirtschaftliche Riese“ wird sich — darüber ist man sich in Paris klar — mit der bisherigen Rolle des glänzenden Zweiten in der EWG kaum mehr zufrieden geben.

Das Gespenst von Rapallo

Deshalb wünscht Paris, eine europäische Ordnung zu schaffen, in der die Bundesrepublik einen festumrisse- nen Platz einnimmt und sich bereit erklärt, gewisse außenpolitische Auflagen zu erfüllen.

Unter diesen Gesichtspunkten ist die Reaktivierung der Freundschaft mit Moskau verständlich. Außenminister Maurice Schumann besuchte Mitte Oktober diie Sowjetunion, unmittelbar gefolgt von Finanzminister Giscard d’Estaing, der an den Arbeiten der sogenannten großen sowjetisch-französischen Kommission teil- niahm. Diese zur Koordiniiefrung der französisch-russischen Wirtschafts interessen gegründete Institution hat bisheir nicht allen Erwartungen entsprochen und keineswegs der Zusammenarbeit der beiden Länder im handelspolitischen, technologischen und wissenschaftlichen Bereich echte Impulse verliehen. Aber es sind nicht die Probleme des Warenaustausches, welche die französischen Politiker bewegen, im Kreml anzuklopfen, sondern die Fragen der europäischen Sicherheit.

Die Idee einer europäischen Sicherheitskonferenz, von der Sowjetunion lanciert, war ursprünglich in Paris auf Skepsis, ja beinahe auf Ablehnung gestoßen. Da zu erwarten ist, daß die neue deutsche Bundesregierung ihre Ostpolitik positiver gestaltet als das Kabinett der abgelösten großen Koalition, scheint es für die Pariser Außenpolitik an der Zeit zu sein, Frankreich in der angekündigten europäischen Konferenz einen bestimmten Einfluß zu sichern. Man fragt sich: Was würde entstehen, wenn die Deutschen an eine Politik von Rapallo und Tauroggen danken? Die bestorganisderte Wirtschaftsmacht des Kontinents verbunden mit dem unerhörten Menschen- und Rohstoffpotential der Sowjetunion würde die bisherigen internationalen Vorstellungen, wie sie bi den großen Kriegskonferenzen festgelegt wurden, grundlegend verändern.

Paris äugt also besorgt über den Rhein und sieht wohl noch nicht die Gespenster des deutschen Nationalismus — schließlich wurde die NPD vernichtend geschlagen — oder das Bündnis Bonn-Moskau-Berlin aufsteigen — aber ist es nicht klüger, Maßnahmen zu ergreifen, bevor sich die Konturen einer neuen europäischen Politik abzeichnen?

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