6822156-1973_43_06.jpg
Digital In Arbeit

Das Unternehmen Wehner

19451960198020002020

Der „Spiegel“ sieht Herbert Wehner als „Einzelkämpfer“, vornehmlich gegen die von ihm geschaffene sozial-liberale Bonner Koalition. Andere sehen in Wehner einen frustrierten, alten Mann, der sich durch bissige und folgenschwere Bemerkungen an jenen Freunden rächt, die ihn angeblich oder wirklich isoliert haben. Und viele gibt es in der Bundesrepublik, die meinen, in Wahrheit käme nun zum Vorschein, wie wenig man durch die Ostverträge erhalten, wie viel man aber für diese bezahlt habe. Worauf beruht das „Unternehmen Wehner“ wirklich?

19451960198020002020

Der „Spiegel“ sieht Herbert Wehner als „Einzelkämpfer“, vornehmlich gegen die von ihm geschaffene sozial-liberale Bonner Koalition. Andere sehen in Wehner einen frustrierten, alten Mann, der sich durch bissige und folgenschwere Bemerkungen an jenen Freunden rächt, die ihn angeblich oder wirklich isoliert haben. Und viele gibt es in der Bundesrepublik, die meinen, in Wahrheit käme nun zum Vorschein, wie wenig man durch die Ostverträge erhalten, wie viel man aber für diese bezahlt habe. Worauf beruht das „Unternehmen Wehner“ wirklich?

Werbung
Werbung
Werbung

Wer Herbert Wehner ist, weiß jeder politisch Interessierte. Er ist der „grand old man“ der SPD, Vater der sozial-liberalen Koalition, einer der Väter der Ostverträge und der neuen Ostpolitik, Fels in der Brandung der SPD, wortkarger und oft gerade deshalb überdeutlicher Fraktionsführer der SPD im Bundestag. Was er sagte und womit er die Deutschen aufregte, ist auch bekannt: ungefähr dies, daß er sich darüber Sorgen mache, wie eine gewisse Starrheit Bonns den Fortgang der Ostpolitik behindere. Aktueller Anlaß dazu ist wieder einmal Berlin. Die CSSR will die konsularischen Vertretungsrechte Bonns für West-Berlin nur auf Einzelpersonen beschränkt wissen. Juristische Personen sollen nicht der Konsulargewalt Bonns unterstellt werden. Das ist keine Haarspalterei Prags, bedenkt man, was sich dahinter eröffnet: Wirtschaftsunternehmungen, wichtige Verbände und Institutionen, ja „West-Berlin als solches“ stünde außerhalb der Bonner Vertretungsrechte. Das ist eine sehr ernste Frage. So ernst, daß daran die Gespräche zwischen Bonn und Prag knapp vor dem glücklichen Abschluß platzten. Für Bonn war das eine Kaltwasserdusche. Prag wartet zu. Und Moskau auch.

Nun ist es evident, daß eine „neue Ostpolitik“ für die BRD erst dann beginnen kann, wenn die Verhältnisse mit allen Oststaaten „normalisiert“ wurden. Das war schon immer eine Forderung Moskaus — das ja in der „totalen Normalisierung“ eine umfassende Garantie des „Status quo“ erblicken möchte — und diese Forderung wird angesichts der heraufziehenden Sicherheitskonferenz immer dringlicher. Evident ist auch, daß wohl nicht nur zufällig mit dem vorläufigen Ende der Gespräche Bonn—Prag neue Schwierigkeiten beim Abfassen von Zusatz- und Folgeverträgen auftauchten, wie sie zwischen BRD und DDR vorgesehen sind.

Sah Wehner also „'die Ostpolitik scheitern“?

Das allein kann es nicht gewesen sein. Auch wäre es absurd, anzunehmen, allein dieser Wahrnehmung wegen habe er sich just in Moskau zu einer Kritik an Bonn, wo ja seine Regierung amtiert, bewogen gefühlt. So billig ist Wehner nicht zu haben!

Noch etwas anderes ist zu bedenken. Seit die obersten Verfassungsrichter in Karlsruhe Bonn zwar die Verfassungsmäßigkeit der Ostverträge bescheinigten, aber hinzufügten, oberstes Gebot künftigen Handelns bleibe das auf Wiedervereinigung gerichtete Grundgesetz, sieht sich die Bonner Regierung sowohl bedroht als auch behindert. Bedroht, weil sie vom steten Argwohn einer unerbittlichen Opposition umgeben ist, Stück für Stück kämen bei der neuen Ostpolitik Vorgänge ans Licht, die an der korrekten Einhaltung des grundgesetzlichen Wiedervereinigungsgebotes Zweifel gestatten; und behindert dadurch, daß sie jeden Schritt in der Außenpolitik unter der Erwägung des Karlsruher Spruches setzen muß; ein für Außenpolitik ganz allgemein unerhört schwieriger und hemmender Vorgang, da diese ja aus einer fortlaufenden Reihe praktischer Improvisationen besteht, deren grundsätzliche rechtliche Beurteilung schwierig, für den, der Außenpolitik treibt, sehr häufig sogar unmöglich ist.

Für die östlichen Vertrags- und Gesprächspartner ist es natürlich gleichgültig, wodurch sich Bonn gehemmt fühlt. Sie kennen und nennen die Preise, und wer nicht zahlen

kann, muß sich selbst befragen. Wirtschaftliche Vorteilhaftigkeiten, politische Vorteile, das alles hat ja einen Preis. Bonn hat die Ostverträge unter allen Anzeichen höchster Eile geschlossen, weil es sich erst dadurch den Weg zu einer neuen Ostpolitik öffnen konnte. Die Eile hatte innenpolitische und außenpolitische Gründe. Nach innen mußte Bonn die hartnäckige Opposition überspielen. Es gelang, nicht zuletzt der allgemeinen Vorstellung wegen, die Ostverträge würden weiß wunder was für Vorteile für jeden Bundesbürger bringen. Diese Illusion hat zwar einer härteren Realität Platz gemacht — aber die sozial-liberale Koalition hat nicht zuletzt mit dieser Illusion eine über alles entscheidende Wahl gewonnen und sorgt sich nun, sie könnte der Realitäten wegen die nächste verlieren.

Nach außen mußte Bonn unter Zugzwang leiden, da es sonst zu befürchten hatte, zwischen alle Stühle zu geraten. Seit die USA und die UdSSR Annäherung, Entspannung, ja Ausgleich betreiben und solange sie das tun, konnte und kann Bonn darin nicht zurückstehen, ohne in eine überaus problematische Isolation zu geraten.

Eile und Zugzwang sind keine guten Voraussetzungen für Ostpolitik. Vor allem dann nicht, wenn man sich dabei von Anfang an ganz offensichtlich in der Position des überhaupt Schwächeren befindet. Zwar braucht auch Moskau die neue Ostpolitik Bonns, aber noch mehr benötigt Bonn diese selbst. Nun, nicht erst am Beispiel der gestörten Verhandlungen mit der CSSR, überkam Herbert Wehner das wohl untrügliche Gefühl, man sitze in einer Klemme. Hätte er das in Bonn geäußert, wäre die Wirkung eher bescheiden gewesen. Er sagte es in Moskau und er mochte es wohl als Wink an alle verstehen, daß die neue Ostpolitik insgesamt in Gefahr komme: Zugzwang, Karlsruhe, die Polarisation in der BRD, das immer wiederkehrende Interpretationsproblem Berlin mitsamt der Zuständigkeit der drei Westalliierten, die ja für West-Berlin weiterbestehen bleibt und damit eine „Zugriffsmöglichkeit“ sui generis darstellt, das alles mochte er deutlich machen, absichtlich mit harten Worten und an der falschen Stelle, um den gewünschten Widerhall hervorzurufen.

Solche Flucht nach vorne pflegt für die Zurückgebliebenen peinlich zu sein. Sie zeigt ein unverkennbares Dilemma der neuen Ostpolitik auf:

Sie ist ein Werk von Politikern, nicht von Diplomaten. Parteimänner, sicherlich von beachtlichem Format, Journalisten, Dichter und Denker haben sich an dem Thema versucht und eine allgemeine Euphorie zustande gebracht. Die Berufsdiplo-tie, die sehr wohl wußte, worum es ging und daß man weder den Ostverträgen noch der neuen Politik ausweichen könne, hatte man erst in zweiter Linie bemüht, wohl auch des Mißtrauens wegen, das die Politiker den Diplomaten angesichts der schon erwähnten Polarisation entgegenbrachten. Nun waren die Politiker in die unangenehme Situation geraten, nicht bloß die politische Verantwortung zu tragen, wie es ihre Pflicht ist, sondern auch in allen schwierigen Details die richtungweisenden Entscheidungen selbst vorzubereiten, wofür die wenigsten gerüstet sind. Das politische Ziel wurde dabei erreicht, aber die Modalitäten wurden vernachlässigt. Der alte deutsche Dilettantismus, möchte man ausrufen, mit dem dieses Volk, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Außenpolitik macht!

Für derlei Schadenfreude ist aber wenig Platz. Eine in Schwierigkeiten geratende Bundesrepublik wäre für ganz Europa ein unerhörtes Problem, gleichgültig, wer in Bonn regiert und

wie man zu dieser Regierung steht. An der BRD hängen — aim Vorabend eines langen Konferenzprozesses, der Buropa verändern wird! — die Europäische Gemeinschaft, das atlantische Bündnis, die europäischen Wirtschafts- und Währunigsverhältnisse, an ihm hängt der „politische Zustand“ Buropas. Natürlich nicht nur an der BRD, aber doch so sehr an dieser, daß jede Veränderung, jedes Desaster auf Europa als Ganzes zurückschlagen muß. Auch das weiß man in Moskau und kalkuliert es ein mit dem Recht des am großen Spiel Beteiligten auf Gewinn. So erhält die vergleichsweise scheinbar geringfügige Frage der konsularischen Vollvertretung West-Berlins durch Bonn dann ungemeines Gewicht, wenn daran die als Voraussetzung für Entspannung und Ostpolitik gedachte Normalisierung des Verhältnisses zwischen Bonn und Prag zu scheitern droht. Und anderseits gerät Bonn in eine immer verworrenere, immer schwächere Position, wenn an dieser „Normalisierung“ seine „Berlin-Präsenz“ zu-schanden geht, was übrigens auch nicht ohne innenpolitische Folgen für die Bonner Koalition bliebe.

Wenn Wehner diesen wahrhaft gordischen Knoten in Moskau durchschlagen wollte, so ist ihm dies zunächst sicher nicht gelungen. Was ihm aber gelungen sein mag, ist, einen allgemeinen Denkprozeß anzuregen. Der Ausgang davon ist ungewiß, denn oft erhalten „losgetretene Ereignisse“ die Kraft einer Lawine, die niemand mehr zurückstauen kann. Wäre dies der Fall, stünde das Ende der sozial-liberalen Koalition in naher Zukunft bevor: zumindest

die FDP würde in Gefahr kommen. Sie steht zwar zu den Ostverträgen, aber sie kann nicht alle „Folgen“ auf sich nehmen. Minister wie Genscher oder Ertl, die weit haushälterischer mit ihren guten Verbindungen auch zur CDU/CSU umgegangen sind als etwa Walter Scheel — für den es kein Zurück mehr gibt — könnten bei einem Desaster — oder noch vor diesem — für eine andere Koalition plädieren. Daß CDU und CSU in ihrer Kritik an Wehner, Brandt und dem „Moskauer Eklat“ die FDP mit Samthandschuhen anfaßten, spricht eine deutlichere Sprache als alle Kommuniques und Kommentare.. Da wimmelte es von „verschwiegenen Lockrufen“, die auch ein tauber Mensch nicht hätte überhören können.

Bliebe zuletzt die Frage, was eine neue Koalition vom Range CDU-CSU-FDP — einmal abgesehen von jeder anderen Problematik — in der Ostpolitik anders machen könnte? Das einst viel gepriesene Motto „Noch einmal von vorne beginnen“ hat nicht einmal mehr deklamatorischen Wert, die Kuh ist längst aus dem Stall. Aber, so fragt man sich in diversen Hauptquartieren, sehen denn die Sowjets nicht in der Sozialdemokratie während und erst recht nach der „Entspannung“ eine ihnen ebenso lästige wie gefährliche „ideologische Konkurrenz“, eine gefahrvolle „Alternative“ für ihre be-

weglicher werdende Gesellschaft? Würden sie nicht viel lieber eine „kapitalistische Regierung“ zum Partner haben, die „ideologisch seuchenfrei“ ist, mit der man Geschäfte machen kann, indes sich der „zwangsläufige dialektische Prozeß“ beim neuen Partner wie von selbst vollzieht? Könnte sie nicht einer solchen Regierung Zugeständnisse machen, die sie Sozialdemokraten nicht gewährt?

Das sind unbewiesene und unüberlegte Hoffnungen, auch dann, wenn sie etwas für sich haben. Und: Auch darauf läßt sich Außenpolitik nicht gründen. Nicht einmal die „interne totale Polarisation“ bliebe auf diesem Weg erspart, wahrscheinlich würde sie noch ärger.

Was man hingegen in der BRD nach dem „Unternehmen Wehner“ bedenken müßte, ist, daß Außenpolitik und die dadurch erstrebte Position nicht möglich ist, solange innenpolitisch — bestenfalls — das Klima eines „Kalten Krieges“ herrscht. Das werden sich alle Parteien sagen müssen. Denn auch der „politische Preis“ muß von allen gezahlt werden, von allen Deutschen und allen ihren Parteien. Von dieser Erkenntnis ist man indessen zwischen München und Hamburg, zwischen Bonn und Berlin noch einen großen Schritt entfernt. Ihn hinter sich zu bringen, wäre Eile ausnahmsweise wirklich geboten. Große sogar!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung