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Das Recht auf Heimat

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Das „Recht auf Heimat“ sei keineswegs unwandelbar nur einer Menschengruppe zugewachsen, folgert Rubin weiter. Heimat sei das Land jenseits von Oder und Neiße nun auch anderen geworden. Es wäre eine schlimme Illusion, voll verderblicher, irredentistischer Folgen, wollte man den Deutschen vorspiegeln, daß es irgend jemanden von Bedeutung in der Welt gäbe, der nun die „älteren Rechte“ der vertriebenen Deutschen in seine eigene Politik aufnehme; mit seiner Hoffnung auf die „Grenzen von 1937“ stehe Deutschland völlig allein. Da es nicht abzusehen sei, wann und ob überhaupt die Deutschen jemals in die Lage kommen könnten, ihre „älteren Rechte“ wirksam geltend zu machen, entspreche es der politischen Realistik, die vollzogenen Tatsachen anzuerkennen. Das sei schon manchen Völkern in der Geschichte so ergangen, einigen unter Mjjtwirkung der Deutschen.

Hierin befindet sich Rubin, ansonsten durchaus kein Freund de Gaulles, auf einer Linie mit diesem; auch de Gaulle spricht lieber von „deutschen Ländern“ als von Deutschland.

Aber, so schürft Rubin weiter, selbst wenn wie durch ein Wunder eine „Wiedervereinigung“ möglich wäre, wie sollte sie denn aussehen? Er leitet diese Überlegung mit einer kühnen Feststellung ein: die Deutschen der Demokratischen Republik werden durchaus nicht bereit sein, zur Gewohnheit gewordene soziale und sozialistische Errungenschaften gegen ein Mehr an Freiheit einzutauschen, von der sich ihre jüngere Generation wohl sehr andere Vorstellungen machen dürfte, als sie in der Bundesrepublik umlaufen. Anderseits gäbe es in der Bundesrepublik nicht wenige, die wohl bereit sein könnten, einen Teil der Freiheit für ein Mehr an „sozialer Sicherheit“ hinzugeben. Daraus folge, daß innerhalb der beiden deutschen Staaten nach Art der kommunizierenden Gefäße ein sozial-ideologischer Ausgleich erfolgen müßte, der sowohl die politischen als auch die gesellschaftlichen Zustände der beiden Staaten gegenüber dem Status quo bemerkenswert verändern würde. Weder sei dies aber in der Absicht der politischen Führung der DDR noch in jener der Bonner Regierung oder der bestimmenden politischen Kräfte der Bundesrepublik gelegen. Von Potsdam wie von Bonn her gesehen, heiße „Wiedervereinigung“ noch für lange Zeit „Anschluß“ an die jeweils geltende staatliche, politische und soziale Ordnung. Anschlüsse dieser Art aber seien Illusion. Wie es ja überhaupt, so kann man über Rubin hinaus folgern, keineswegs feststeht, ob die Völker und Staaten Osteuropas sich eine Stärkung der DDR durch Zuwachs des übrigen Deutschlands wünschen. Eher läßt sich denken, daß man ebensowenig wie in Paris hinsichtlich der Bundesrepublik in Warschau oder Prag an einer mehr als die Verdoppelung ausmachenden Vergrößerung der DDR interessiert ist.

Diese Überlegungen treiben Rubin dem Schlüsse zu, daß Bonn, wenn es nun eine neue Ostpolitik beginne, zuerst „Vorleistungen“ erbringen Cmüsse, die eigentlich nur Anerkennung eines Zustandes sind, der schon seit 22 Jahren besteht. Erst darnach lasse sich versuchen, wie in gewissen Bereichen, etwa der Diplomatie (gegenseitige Vertretungshilfe), der Wirtschaft oder des Handelsverkehrs konföderative

Konstruktionen herzustellen sind, die einer heute noch nicht absehbaren Wiedervereinigung vorausgehen. Erst darnach könne Bonn konstruktive Ostpolitik betreiben.

Das alles klingt, insbesondere für deutsche Ohren, gewiß sehr unangenehm. Die offizielle Führung der FDP, der auch die sogenannte, von ihr selbst bestellte Schollwer-Studie vorliegt (deren Ergebnisse auf eine Mitautorenschaft Rubins schließen lassen), distanzierte sich mit großer Erregung. Hauptsächlich wohl deshalb, weil die nun in Opposition stehende kleine Partei befürchten muß, daß Wahrheit in der Politik nur schlecht gelohnt wird. Insbesondere dann, wenn die großen Parteien der Koalition versuchen sollten, aus der Offenheit Rubins propagandistische Erfolge für sich selbst zu saugen. Denn auch Deutsche, und es sind nicht wenige, welche den Thesen Rubins die Richtigkeit nicht absprechen wollten, werden sich gerne die trüberen Aussichten, die ihnen hier geboten werden, durch freundlichere Prognosen vertreiben lassen. In nichts wiegt sich zumal der deutsche Wähler lieber als in Träume.

Nicht schadenfroh, sondern ' alj Europäer mit Trauer muß man feststellen, daß die politische Begabung der Deutschen nicht besonders groß ist. Auch das größte politische Kunstwerk der neueren deutschen Geschichte, das Bismarck-Reich und dessen politische Unternehmungen, erwejst sich im heutigen Licht zumeist als dramatische Fehlkonzeption. Insofern nämlich, als es auf gesellschaftlichem Gebiet eine Politik gegen die Zeit, auf außenpolitischem Gebiet eine bloß für eine kurz bemessene Zeit gewesen ist. Mit dem Untergang der Gesellschaft, welche das Bismarck-Reich trug — im wesentlichen die Militärs, der preußische Großgrundbesitz und die Staatsbürokratie —, brach der Bau zusammen. So ist wahrscheinlich auch heute die Zeit einer „Stunde der Wahrheit“ (nicht nur in Deutschland) nicht besonders günstig. Die Querelen, welche nicht nur in der FDP, sondern auch vom offiziellen Bonn gegen Rubin in Gang gesetzt werden, lassen befürchten, daß die Deutschen über sich und ihre Möglichkeiten wiederum weniger erfahren werden, als ihnen und ihrer Umwelt gut täte.

So hängt über Deutschland, das nicht erwachen will, die schwere Frage, welche Alternativen noch zum Vorschein kommen könnten, wenn schon die von Rubin gezeigten zurückgewiesen werden sollten. Es heißt nicht, die „Deutsche Frage“ zu hoch zu bewerten, wenn man Europa wünscht, es möge bald eine finden — und ergreifen!

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