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VI. Republik?

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Der siegreiche Kandidat Giscard d'Estaing hat während seiner Kampagne immer wieder beteuert, daß er den Wunsch der Nation nach weitreichenden Änderungen in den gesellschaftspolitischen Strukturen anerkenne und seine Wahlkampfversprechen unter keinen Umständen über Bord werfen werde.

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Der siegreiche Kandidat Giscard d'Estaing hat während seiner Kampagne immer wieder beteuert, daß er den Wunsch der Nation nach weitreichenden Änderungen in den gesellschaftspolitischen Strukturen anerkenne und seine Wahlkampfversprechen unter keinen Umständen über Bord werfen werde.

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Die politischen Beobachter der französischen Innenpolitik fragen sich gemeinsam mit den Verfassern der ersten Werke über die Wahlkampagne April-Mai 1974, ob die Republik noch die Nummer V zu tragen hat. Ist sie nicht zu Fuß bereits in die Kategorie VI gegangen? Der Autor dieser Studie bewunderte das prächtige Defilee über die Champs-Elysees anläßlich des Amtsantritts Georges Pompidous. Es war auch im Elysee-Palast, wo Giscard d'Estaing die Würde des dritten Präsidenten Frankreichs nach 1958 übernahm. Der Unterschied im Stil war auffallend. Das 20. Jahrhundert mit seiner Freude an Pomp und Triumph schien der Vergangenheit anzugehören. Die hohen Würdenträger Frankreichs glichen eher dem Verwaltungsrat einer Weltfirma.

Diese Reformen hat Giscard d'Estaing konsequent fortgesetzt. Nicht zuletzt ist der Wille, daß jeder Bürger zukünftig sonntags den Amtssitz des Präsidenten besichtigen kann, ein Beweis, daß das bisher starre Protokoll im wesentlichen aufgehört hat, zu existieren. Das traditionelle, farbenprächtige Schauspier der Parade am 14. Juli, an dem Frankreich die Schatten von 1789 heraufbeschwört, wurde von den Champs-Elysees auf die üblichen Aufmarschstraßen der Linksparteien und Gewerkschaften zwischen dem Platz der Republik und der Bastille verbannt. Die Barriere zwischen der Staatsführung und den Bürgern beginnt zusammenzubrechen.

Auf Grund der herannahenden Urlaubszeit, die 10 Millionen Menschen

an die Sandstrände der Normandie. der Bretagne und der Cöte d'Azur lockt, zeigen sich nur tastende Versuche, die politischen Realitäten neu zu definieren und die Standpunkte der Parteien festzulegen. Selbst die Gewerkschaften manövrieren vorsichtig. Ihre Spitzenvertreter wurden vom Regierungschef empfangen, was ebenfalls einer Geste gleichkommt, die die arbeitende Welt seit langem nicht mehr kannte. In erster Linie werden die Gaullisten durch die Ergebnisse des 19. Mai herausgefordert, nicht nur Strategie und Taktik zu reformieren, sondern ihre Positionen in der politischen Geographie endgültig zu fixieren. Die gaullistische Sammelbewegung hat den Schock dieser Wahl und den Verlust der beherrschenden Stellung noch nicht überwunden. Zähneknirschend und voll Ressentiments werden die Reformatoren und die bisherigen Partner der alten Majorität beobachtet und Jean Lecanuet, jetzt Justizminister,' bleibt das Ziel versteckter und offener Angriffe der UDR. Im Laufe der Parlamentsdiskussion über die Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre konnte man feststellen, wie wenig homogen die neue Präsidentschaftsmehrheit ist. Lediglich die Zentrumsparteien haben den Versuch unternommen, sich zusammenzuschließen. Damit entstand eine parlamentarische Gruppe von 55 bis 60 Abgeordneten, die so unterschiedliche Persönlichkeiten, wie den früheren Kultusminister Duhamel, den Justizminister Lecanuet und das Enfant ter-rrble der Innenpolitik Servan-Schreiber umfaßt. Letzterer verhält

sich übrigens ruhig. Sein Ausscheiden aus der Regierung zeitigte bis Ende Juni nicht die geringsten Auswirkungen und J.-J. S.-S. proklamiert mit seinem Partner Jean Lecanuet, er wolle der linke Flügel der Präsi-dentschaftsmehrheit sein. In Frankreich gehört es zum guten Ton, links zu stehen, mag auch das Portefeuille auf der rechten Seite gelagert sein.

Der starke Mann im Kabinett, Fürst Poniatowski, der die eigentlichen Grundlagen für den Wahlsieg seines Freundes Giscard d'Estaing gelegt hatte, erhoffte sich ursprünglich die Fusion seiner Partei mit den drei Zentrumsparteien. Diese sprechen zwar von einer Konföderation, sind aber nicht bereit, ihre Eigenständigkeit aufzugeben und die geschickte Leitung des fürstlichen Innenministers anzuerkennen. Poniatowski geht von seinem Plan nicht ab, aus der Dynamik der Wahlkampagne schöpferid,'!eine große liberale Partei zu formieren, in der sicti wesentliche Teile der UDR mit den Unabhängigen Republikanern und den Reformatoren treffen. Bevor diese Projekte heranreifen, muß Michel Poniatowski den eigenen Parteiapparat ausbauen, um ihm jene Grundlagen zu geben, die den Millionen Wählern Giscard d'Estaings eine politische Heimat verschaffen. Er will also die Operation durchführen, die Jean Lecanuet anläßlich der zweiten Präsidentschaftswahlen von 1965 versäumt hat.

Während die Konturen der Präsiden tschaftsmehrheit noch nicht gefunden sind, können die Linksparteien eine überraschend große Geschlossenheit vorweisen. Es ist wenig wahrscheinlich, daß die Sozialisten das gemeinsame Programm mit den Kommunisten aufkündigen oder die Union mit der KPF zerbrechen werden. Mitterrand konnte die Kräfte, die ihm eine so große Stimmenzahl verschafft hatten, in die Kanäle der Sozialistischen Partei zu leiten. Zwei weitere Momente stärken seine Stellung. Die zweitgrößte . Gewerkschaft CFDT wurde zum verlängerten Arm der Sozialisten und die intellektuelle Splitterpartei PSU mit ihrem anerkannten Ideologen Rocard verstärkte die sozialistische Arbeitsgemeinschaft. Die Sozialisten erfreuen sich jetzt einer bedeutenden Popularität und stehen auf dem Zenit ihres Einflußes, sodaß diese Partei gegenwärtig die erste Frankreichs ist, wenn sich auch die Gaüllisten auf eine größere Parlamentsfraktion und die Kommunisten auf eine stärkere Mitgliederzahl stützen können. Diese Linksoppositiön ist nicht gesonnen, ihre Waffen zu strecken oder der Regierung ruhige Tage zu sichern.

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