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Wie die Jakobiner

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Jeder französische Politiker, der etwas auf sich hält, will Abgeordneter oder zumindest Senator werden. Darüber hinaus verf sucht er sich als Bürgermeister; darum verwaltet eine Reihe von amtierenden Ministern größere oder kleinere Städte. Justizminister Lecanuet ist Staatsoberhaupt von Rouen, der Industrieminister d'Ornano amtiert in Deauville, und markante Repräsentanten der Opposition betrachten ihre Gemeinde als wichtigen Stützpunkt, von dem aus eine nationale politische Karriere möglich ist. Die Nummer zwei der sozialistischen Partei, Gaston Def f erre, administriert Marseille, und der bisherige Kronprinz Mitterrands, Mouroy, hat sich eine starke Position in Lille aufgebaut.

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Jeder französische Politiker, der etwas auf sich hält, will Abgeordneter oder zumindest Senator werden. Darüber hinaus verf sucht er sich als Bürgermeister; darum verwaltet eine Reihe von amtierenden Ministern größere oder kleinere Städte. Justizminister Lecanuet ist Staatsoberhaupt von Rouen, der Industrieminister d'Ornano amtiert in Deauville, und markante Repräsentanten der Opposition betrachten ihre Gemeinde als wichtigen Stützpunkt, von dem aus eine nationale politische Karriere möglich ist. Die Nummer zwei der sozialistischen Partei, Gaston Def f erre, administriert Marseille, und der bisherige Kronprinz Mitterrands, Mouroy, hat sich eine starke Position in Lille aufgebaut.

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Es stellt sich die Frage, welche Gründe diese Männer veranlassen, eine der 38.000 Gemeinden zu erobern und ihre kärgliche Zeit zwischen einem Pariser Ministerium und einer Stadtverwaltung zu teilen. Obwohl das Amt des Bürgermeisters ein gewisses Prestige mit sich bringt, sind die Prärogativen eines französischen Stadtoberhauptes sehr gering.

Nach wie vor wird die V. Republik streng zentral von Paris aus gelenkt, und sämtliche Versuche, eine Selbstverwaltung im lokalen oder regionalen Bereich zu schaffen, sind gescheitert. Es gibt allerdings ein Gesetz vom 5. Juli 1972, welches die Gründung regionaler Einrichtungen vorsieht. Diesem Gesetz gingen heftige Diskussionen voraus, inwieweit man den natürlichen Einheiten an der Basis des Staates verstärkte Freiheit geben könne. Die V. Republik blickt auf eine lange Tradition des Zentralismus zurück. Die Könige mußten oft erbitterte Kämpfe gegen die Feudalherren führen, um den Primat des Staates zu sichern. Die Große Revolution von 1789 hat das Konzept des Zentralstaats nicht nur bestätigt, sondern auch ausgebaut. Die Partei der Jakobiner — ihre Theorien leben noch — wollte den Regionen nicht die geringsten Vorrechte schenken. Schließlich vollendete Napoleon die Gestaltung des Staates, wie er sich uns auch heute präsentiert. Aber bereits die III. Republik kannte das Problem der Autonomiebestrebungen und sah sich durch diese meist extrem rechten Organisationen im Elsaß und in der Bretagne bedroht. Die deutsche Besatzungsmacht versuchte ohne große Uberzeugung, derartige Bestrebungen zu begünstigen. Nach der Befreiung war es durch zwei Jahrzehnte in den Provinzen relativ ruhig. Die verschiedenen Kolonialkriege, die das Parteienregime führte, absorbierten die nationalen Energien, und die Regionen wurden weiterhin vernachlässigt. Kenner der Materie behaupten, die IV. Republik habe noch stärker jede Form des Föderalismus abgelehnt. Das finanzielle Subventionssystem der Gemeinden und Regionen wurde auf alle Fälle akzentuiert. So beträgt das lokale Budget einer Gemeinde im Vergleich zum Gesamtbudget Frankreichs 18 Prozent, gegenüber 60 in der Bundesrepublik und 50 in Schweden und Dänemark. Doch selbst über diese Summe können Bürgermeister und Gemeinderäte bis zu 90 Prozent nicht frei verfügen, da sie zweckgebunden ist. Damit hat der Staat nicht nur ein Kontroll-, sondern auch ein Entscheidungsrecht über,, alles, was an der Basis vor sich geht. Der einzelne Bürgermeister muß schon über gute Beziehungen zur hohen Bürokratie verfügen, um zusätzliche Einnahmen für sein Gemeindewesen zu erhamstern. Diese Verhältnisse erklären den Wunsch zahlreicher Städte, einen aktiven Minister an ihrer Spitze zu haben. Dieser ist natürlich kraft seines Regierungsamtes in der Lage, der lokalen Gemeinschaft schneller, und mehr Subventionen zu verschaffen.

Sowohl praktisch als auch theoretisch haben nun die Föderalisten Frankreichs seit einigen Jahren begonnen, die Staatsomnipotenz zu kontestieren. Nicht zuletzt können sie auf die Überlegungen des Begründers der V. Republik, General de Gaulle, hinweisen, der 1969 sogar seine politische Karriere aufs Spiel setzte, um das System eines superzentralisierten Staates auszumerzen. Allerdings verband er die an sich wohlberechtigte Frage in einem Referendum mit einer weiteren, die darauf hinzielte, die Zweite Kammer, also den Senat, abzuschaffen. Die Mehrheit der Wähler entschied sich damals gegen die beiden Pläne de Gaulies und seit dieser Zeit ist nie wieder in solchem Umfang der Versuch unternommen worden, die Ansätze zu einem bescheidenen Föderalismus zu wagen. Da von de Gaulles Nachfolger Pompidou jede Initiative gegen die Einheit des Staates gedrosselt wurde, hoffte man bei Giscard d'Estaing größeres Verständnis zu finden. Der jetzige Staatschef hat sich mehrmals für eine fundierte Regionalisierung ausgesprochen und sogar das gaullistische Projekt von 1969 als zu wenig weitgehend beurteilt. Dieser Willenserklärung Giscard d'Estaings steht die Praxis der letzten Wochen entgegen. Als es darum ging, den lokalen Kollektivitäten zum Ausbau ihrer Einrichtungen zusätzlich 12 Milliarden Francs zur Verfügung zu stellen, wurde keinem Gemeindevater, keinem Abgeordneten das geringste Mitspracherecht eingeräumt. Wieder war alles fleißig und genau von der Pariser Hochbürokratie vorbereitet und projektiert worden. Die zentrale Technokrate feierte Triumphe, und sämtliche Regionalisierungswünsche sind derzeit von der Tagesordnung gestrichen. Der Theoretiker aller Bestrebungen, auf unterster Ebene Entscheidungsfreiheit zu gewähren, Servan-Schreiber, mag Pamphlete veröffentlichen — daran ändern kann er nichts. Warum hat Giscard d'Estaing seine bisherigen Überzeugungen selbst desavuiert? Man kann, glaube ich, die Vorfälle auf Korsika, August 1975, als Erklärung heranziehen. Die Verantwortlichen des jetzigen Regimes fürchten, daß eine Verstärkung des Föderalismus zu einer Auffächerung des Staates führen könnte. Denn viele Korsen sprachen bereits von einer unabhängigen Republik auf der Insel. Entspräche man ihren Forderungen, würden, so lauteten die Überlegungen, die Bretonen und Elsässer kommen und das an sich kleine französische Territorium in Einzelteile zerlegen. Trotz der Hinweise auf Erfolge des Föderalismus, zum Beispiel in der Bundesrepublik, sind die französischen Traditionen so stark, daß alle geplanten Konzessionen auf dieser Ebene am Widerstand der Pariser Behörden scheitern.

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