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Dezentralisierung mit vielen Fragezeichen

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Regionalisierung war in Frankreich lange Zeit alles andere als großgeschrieben, eisern hielt die Pariser Zentrale an ihrer ungewöhnlich starken Machtposition fest. Das soll in Hinkunft anders werden. Die neue französische Regierung hat bereits einen ersten Anlauf unternommen, um den das Land in vielen Dingen sterilisierenden Zentralismus zu überwinden-wobei das Tempo, mit der sie dieses Werk angeht, so manchem bedenklich erscheint. Unsere Mitarbeiter in Paris und Straßburg berichten:

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Regionalisierung war in Frankreich lange Zeit alles andere als großgeschrieben, eisern hielt die Pariser Zentrale an ihrer ungewöhnlich starken Machtposition fest. Das soll in Hinkunft anders werden. Die neue französische Regierung hat bereits einen ersten Anlauf unternommen, um den das Land in vielen Dingen sterilisierenden Zentralismus zu überwinden-wobei das Tempo, mit der sie dieses Werk angeht, so manchem bedenklich erscheint. Unsere Mitarbeiter in Paris und Straßburg berichten:

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Die Notwendigkeit einer über die bisherige bescheidene Regionalisie­rung hinausgehenden Dezentralisie­rung wird in Frankreich von keiner Partei bestritten. Der ehemalige gaul­listische Minister Olivier Guichard hatte zur Ausweitung der Rechte der Gemeinden bereits vor einigen Jahren dem damaligen Präsidenten Giscard d'Estaing einen recht weitgehenden Bericht unterbreitet.

Die Absicht des sozialistischen Mi­nisters und Bürgermeisters Gaston Defferre, die verwaltungspolitische Landschaft mit einem dicken gesetzli­chen Rotstift in wenigen Monaten grundlegend zu verwandeln, stößt je­doch auf zahlreiche Bedenken. Tn der Tat erscheint es schwer vorstellbar, ein vielseitig verschachteltes System, das im Laufe der Jahrhunderte in ziel­bewußtem zentralistischem Geiste bis in die Mentalitäten der einzelnen Bür­ger hinein verwurzelt wurde, über Nacht völlig umzugestalten.

'Die wenigen Wochen nach der Re­gierungsbildung von Defferre der Na­tionalversammlung unterbreiteten Gesetzesentwürfe waren zwangsläufig unvollständig und vom rein juristi­schen Standpunkt aus gesehen nicht mit der erforderlichen Sorgfalt ausge­arbeitet. Vermißt werden mußten auch die Konsultationen mit den be­troffenen lokalen Körperschaften, ob­wohl die Regierung versprach, in al­len Bereichen den Dialog mit der Be­völkerung und ihren Vertretern zu pflegen.

In der ersten Lesung wurde jeden­falls der Regierungsentwurf bereits in zahlreichen Punkten geändert und verbessert. Es ist anzunehmen, daß sich der Senat, die zweite Kammer, mehr Zeit läßt und eine größere Zahl von Zusatzanträgen annehmen wird, so daß das letzte Wort bei weitem noch nicht gesprochen ist.

Außerdem hat die Regierung noch zwei weitere Gesetzesvorlagen ange­kündigt. Die eine soll die Beziehungen zwischen den verschiedenen regiona­len Körperschaften - Departements und Regionen - regeln, die andere die heikle Frage einer größeren Steuer- und Finanzautonomie; die zwangs­

läufig auf Kosten der bereits stark de­fizitbelasteten Staatskasse geht

Demnach steht man nur vor einem Rohbau, dessen Innenausstattung noch höchst ungewiß ist. Im Augen­blick lassen sich daher nur die großen Linien des Reformprojekts skizzieren.

Das Fundamjent bildet die völlige Befreiung der Gemeinden von der bis­herigen Bevormundung durch die Präfekten als Vertreter der Zentralge­walt. Die Beschlüsse der Gemeinderä­te treten in Zukunft automatisch in Kraft. >

Dem Präfekten, der zur symboli­schen Unterstreichung des Wandels in „Kommissar der Republik“ umge­nannt wird, verbleibt nur ein zeitlich stark befristetes Einspruchsrecht vor dem Verwaltungsgericht, während die Kontrolle der Finanzgebahrung re­gionalen Rechnungshöfen, die mög­lichst schnell gegen etwaige Mißbräu­che einzugreifen hätten, vorbehalten ist.

Die Gemeinden erhalten außerdem das Recht, in allen lokalen Interessen­bereichen, einschließlich der Wirt­schaft, eigene Initiativen zu ergreifen, ohne vorher die Bewilligung der Zen­tralgewalt einzuholen.

Selbständig werden ferner die di­rekt gewählten Lokalparlamente der Departements, die Generalräte, die gegenüber den Kommissaren der Re­publik ungefähr die gleiche Bewe­gungsfreiheit besitzen wie die Ge­meinden. Die Rolle der Exekutive geht so vom ehemaligen Präfekten auf den von seiner Versammlung gewähl­ten Präsidenten des Generalrates so­wie auf seine Beisitzer über.

Der Kommissar der Republik zeichnet aber weiterhin allein verant­wortlich für den staatlichen Verwal­tungsapparat im Departement, muß jedoch dem Präsidenten des General­rates die für die Verwaltung des De­partements erforderlichen Beamten zur Verfügung stellen. Völlig ausge­nommen von der Dezentralisierung bleibt das Schulwesen. Unklar ist noch, wie die Trennungslinie zwi­schen der staatlichen und der lokalen Verwaltung gezogen werden soll.

Die Regionen erhalten nach dem noch nicht endgültig fertiggestellten Gesetzesentwurf die gleichen Rechte wie die Departements. Die bisher aus den Parlamentariern und Vertretern der Generalräte zusammengesetzte re­gionale Versammlung wird aus direk­ter Wahl hervorgehen und eine ver­antwortliche Exekutive ernennen. Die Frage der Verteilung der Kompeten­zen zwischen Region und Departe­ment ist noch völlig offen.

Es ist naheliegend, daß sich die Re­gion vorwiegend um wirtschaftliche Aufgaben bemüht, während für das Departement das Schwergewicht bei der Verwaltung liegt. Es dürfte aber nicht leicht sein, direkt gewählte Volksvertreter daran zu hindern, ih­ren Zuständigkeitsbereich auszudeh­nen.

Zu berücksichtigen ist auch, daß zwischen Region und Departement keine Rangordnung vorgesehen ist, während natürlich die Zentralgewalt keineswegs auf ihre regulierende Rol­le verzichten will, zumal die von der sozialistischen Regierung wiederauf­gewertete staatliche Planung zwangs­

läufig im nationalen Rahmen erfolgen muß.

Ein Vergleich mit ausländischen Beispielen führt nicht sehr weit, denn in allen einigermaßen dezentralisier­ten Ländern hat sich die Aufteilung der Kompetenzen und auch der Steu­eraufkommen im Laufe der Jahrzehn­te oder Jahrhunderte eingespielt, wäh­rend in Frankreich über Nacht ein Verwaltungssystem durch ein völlig neues ersetzt werden soll. Starke Rei­bungen und Fehlleistungen sind un­vermeidbar.

Der staatliche Verwaltungsapparat wird zweifellos bewußt oder unbe­wußt mit allen Mitteln oder Schlichen seine Positionen verteidigen, während die neuen lokalen Machthaber der Versuchung ausgesetzt sind, über ihre Kompetenzen hinauszugehen, mit der Politik zu spielen, ohne auf die Finan­zen Rücksicht zu nehmen.

Die Emanzipation ist außerdem zu sehr auf die großen und mittleren Städte zugeschnitten, deren Bürger­meister häufig seit langem im Parla­ment sitzen und die auch im allgemei­nen über eine gewisse verwaltungsmä­ßige Erfahrung verfügen.

Während in Italien, wo unmittelbar nach dem letzten Weltkrieg, aller­dings in längeren Etappen, eine ver- gleichbare Dezentralisierungsaktion erfolgte, 8000 Gemeinden im Durch­schnitt 7000 Einwohner zählen, ent­fallen auf über 36.000 französische Gemeinden im Durchschnitt weniger als 1500 Einwohner. 23.000 haben nicht einmal 500 Seelen und lediglich 1500 mehr als 5000.

Es ist unvorstellbar, daß diese 23.000 Gemeinden von ihren neuen Selbstverwaltungsrechten irgendwie Gebrauch machen können.

Noch fragwürdiger ist die finanziel­le Unabhängigkeit. Es ist wirklich in. den Sternen geschrieben, wie der Staat mit einem voraussichtlichen De­fizit von 100 Milliarden Francs im kommenden Jahr bereits ab 1983 in der Lage sein könnte, den Anteil der lokalen Körperschaften am Steu­eraufkommen aufzustocken, ohne die bereits sehr drückende Steuerschrau­be noch weiter anzuziehen.

Außerdem wird auch in Zukunft die überwiegende Zahl der kleinen Gemeinden zur Deckung ihrer drin­genden Ausgaben von der staatlichen Hilfe abhängen, so daß sich an der al­ten Vormundschaft des neuen Kom­missars der Republik praktisch nichts ändern dürfte.

Wahrscheinlich wäre es besser ge­wesen, die Reform in Etappen durch­zuführen, um zunächst einmal die bis­her beschränkten Rechte der Regio­nen im wirtschaftlichen Bereich aus­zuweiten und den Gemeinden im Rahmen ihrer gegebenen finanziellen Möglichkeiten eine größere Bewe­gungsfreiheit zu geben. Man hätte so das Risiko vermieden, daß dieser durchaus wünschenswerte neue An­lauf zur Überwindung eines sterilisie­renden Zentralismus an den Realitä­ten scheitert

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