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österreichische Nationalstiftung

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Im vergangenen Winter erschien In der deutschen Wochenzeitung „Christ und Welt“ eine Artikelfolge von Georg Picht: „Die deutsche Bildungskatastrophe.“ Sie verglich eine deutsche Misere mit anderen Ländern.

Während es im Bonner Bundestag nur 70 Abgeordnete der Mühe wert fanden, an der Debatte über das Forschungsförderungsgesetz teilzunehmen (die analogen Ausfallserscheinungen im österreichischen Parlament in den letzten Jahren sind bekannt), waren die Bänke der französischen Nationalversammlung bei der Debatte über den Haushalt des französischen Erziehungsministers überfüllt. „Über fünfzig Redner der Regierungsmehrheit und der Opposition hatten sich zum Wort gemeldet, und es entspannen sich scharfe Auseinandersetzungen ... Das Unterrichtswesen ist in Frankreich zum Problem Nummer eins geworden, das die öffentliche Meinung neben der Preissteigerung am leidenschaftlichsten erregt. Die Höhe der Kredite... macht das Unterrichtswesen zu einem erstrangigen Politikum. Ihr Betrag überschreitet schon ein Sechstel des gesamten Staatshaushaltes. Das beweist auch, daß die Bildung der Jugend von der politischen Führung — in Frankreich wenigstens — als wichtigste Investierung betrachtet wird.“ („Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 23. November 1963.)

„Christ und Welt“ bemerkte dazu: Zur gleichen Zeit stand in der „New York Times“: „Investitionen in Erziehung und Bildung sind für eine Nation entscheidender als jede andere langfristige Planung.“ Und in England gab der konservative Premierminister Douglas-Home „in seiner ersten Amtswoche das revolutionärste Bildungsprogramm der britischen Geschichte bekannt“.

Die deutsche Wochenschrift fragte dann: „Sind Bundesregierung und Bundestag wirklich der Meinung, daß sie sich angesichts dieser internationalen Entwicklung weiterhin in süßem Nichtstun wiegen dürfen?“

„Die deutsche Bildungskatastrophe“ löste eine Kettenreaktion aus, die gegenwärtig, im Mai 1964, in voller Entfaltung begriffen ist. Am 4. März fand im Bundestag die kulturpolitische Debatte über das Material und die Problemstellungen Pichts statt. Zuvor ging eine große Anfrage der SPD an die Bundesregierung, deren beide ersten Fragen so lauten: „Welche Folgerungen hat die Bundesregierung aus der in die Regierungserklärung von Bundeskanzler Erhard übernommenen Auffassung gezogen, den Problemen der

Bildung und Forschung komme heute ein der Bedeutung der sozialen Frage im 19. Jahrhundert entsprechender Rang zu? Wie will die Bundesregierung zeitgerecht Wissenschafts- und Bildungspolitik in Ubereinstimmung mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung gestalten?“

Die erstarrten Verhältnisse sind also in der Bundesrepublik in Fluß geraten. Am 21./22. März künden bereits Schlagzeilen: „Länderchefs verhandeln mit Erhard — Milliarden für neue Hochschulen — Großzügiger Finanzierungsplan der Ministerpräsidenten — Aufbringung der Mittel aus einem gemeinsamen Fonds vorgesehen — Gelder für Regensburg, Konstanz, Bochum, Bremen Dortmund.“

Nicht minder Erstaunliches begab sich bei den Parteien: die CDU/CSU, geltend als feindselig gegen „Intellektuelle und Intelligenz — ähnlich wie lange Jahrzehnte ihre österreichische Bruderpartei —, besann sich zu Aussprachen und Treffen mit als Kritiker des politischen Systems bekannten Professoren, Autoren, Publizisten zu stellen.

Die Stunde einer aktiven Bildungspolitik ist heute aber auch in Österreich gekommen. Die notwendige wirtschaftliche Umrüstung erfordert nicht zuletzt eine Bildungspolitik und eine Entwicklungspplitik. Österreich wird, wenn es so weitergehen sollte, immer mehr ein Land von Alphabeten: von Menschen, die zwar das „kleine Alphabet“ ihrer Tagesinteressen in ihrem Konsumverstand „beherrschen“, aber unfähig sind, in wacher, rascher Reaktion auf die großen Veränderungen in der Welt, Wirtschaft, globalen Menschheitsgesellschaft positiv zu antworten.

Es gibt jedoch kein Stillhalteabkommen mit der Weltgeschichte. Wir kommen unter die Räder des riesenhaften Prozesses, der mit Komplexen, wie „Automation“, „Kampf um Weltmärkte“, „Liquidierung nicht konkurrenzfähiger Betriebe und Industrien“, „Inflation“ und „Freizeitverderb“, „Konsumzivilisation ohne Kulturproduktion“, angedeutet, nicht erfaßt wird.

Es wäre töricht, sich in einer solchen Situation, die wirklich alle angeht — gerade auch die, welche sie nicht sehen wollen —, einen Sündenbock oder einen Atlas, der die Last des Ganzen tragen soll, zu „wählen“. Etwa den Unterrichtsminister. Alle geht es an: unser ganzes Volk. Dieses hat für die erforderliche innere Aufrüstung und Umrüstung die Kosten zu übernehmen. Führend in der Verantwortung aber ist die Regierung nahmhaft zu machen. Die ganze Regierung. Und der ganze Nationalrat. Und beide Regierungsparteien.

In der Debatte im Bonner Bundestag über den Bildungsnotstand erklärte der deutsche Wissenschaftsminister (so etwas gibt es in Deutschland!) Hans Lenz: Neben dem Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung stehen noch 14 anderen Ministerien Mittel zur Förderung der sogenannten Ressortforschung zur Verfügung. Die Bundesregierung wird einen „Bericht über die Lage der Wissenschaft“ vorlegen; dieser Bericht muß im Zusammenhang mit der „Bedarfsfeststellung der Länder 1963 bis 1970“ gesehen werden.

Halten wir für Österreich fest: Politisch seriös, anständig, glaubwürdig denken heißt heute: mindestens ein Jahrzehnt mit vordenken, vor-

planen. Innenpolitisch seriös, anständig, glaubwürdig auftreten heißt: die innere Aufrüstung und Umrüstung beginnen. Hier haben beide Regierungsparteien reiche Aufgaben, große Arbeitsfelder vor sich offen. An die Stelle, genau an die Stelle des Streites um je die un-bewältigte Vergangenheit des Partners und Gegners hat heute die Arbeit für die Zukunft zu treten.

Sollte das wirklich so schwer sein? Der gegenwärtige Bundeskanzler hat sich als Landeshauptmann für Salzburg und als Politiker in seiner Partei seit eineinhalb Jahrzehnten für eine aktive Kultur- und Bildungspolitik eingesetzt. Unterrichtsminister Dr. Piffl-Percevic stellt seine ganze Arbeitskraft dieser großen Aufgabe, der Sanierung unseres Schul-, Hochschul- und Bildungswesens, zur Verfügung. Auf sozialistischer Seite haben Minister Kreisky, Vizebürgermeister Mandel, führende Funktionäre im Bildungswesen der Gewerkschaft und andere ebenfalls längst die Notwendigkeit erkannt, Österreich innerlich aufzurüsten. Der sozialistische Antrag im Nationalrat bezüglich einer Steuer für diese Projekte führt bereits mitten ins Herz der Probleme.

Die Geschichte einiger geradezu heroischer Anstrengungen, Österreichs geistiger, kultureller Inflation, dem Ausverkauf und der Abwanderung qualifizierter Kräfte zu begegnen, ist noch nicht geschrieben. Wesentliche Kapitel werdender

Photo: Gröpel

Arbeit des „Notringes der wissenschaftlichen Verbände“ (ihm sind rund 120 Verbände angeschlossen) zu widmen sein, der unter Führung des Generalsekretärs Prof. Dr. Gustav Stratil-Sauer und verdienter Mitarbeiter Bedeutendes in dürftiger Zeit geleistet hat. In dürftiger Zeit: so wird man einst die Jahre des Wohlstandes, unserer Konsumzivilisation, 1955 bis 1964, zu nennen haben.

Das von den Besatzungsmächten geräumte, von ihnen befreite Österreich hat in diesen Jahren das notwendige Werk der Selbstbefreiung, der inneren Aufrüstung vernachlässigt, und das, obwohl eine ganze Reihe von teilweise hervorragenden Persönlichkeiten in Wissenschaft, Forschung und Kunst mahnend und beschwörend an die Öffentlichkeit getreten ist: das, obwohl Bundesregierung, Länder und Stiftungen (die Theodor-Körner-Stiftung und die in diesem Jahr gegründete Leo-pold-Kunschak-Stiftung hier nicht zu vergessen) es an Preisen, Stipendien, Förderungsmaßnahmen nicht fehlen ließen. Wobei in vielen Einzelfällen das Bundesministerium fü£ Unterricht, und Landesregierungen mit generösen Unterstützungen tatkräftig einsprangen.

Warum konnte dennoch der Durchbruch zur Zukunft nicht erzwungen werden? Aus einem ganz einfachen Grunde. Ein Blick auf unseren Staatshaushalt zeigt, daß sich die Posten für die innere Aufrüstung,

für Bildung, Wissenschaft, Forschung, in keiner Weise mit denen für andere Investitionen vergleichen lassen. Es fehlte bis heute an der notwendigen Kooperation der Minister und Ministerien und an der notwendigen Kooperation der verantwortlichen Politiker. Es fehlte an einer Budgetpolitik, an einer Finanzpolitik, an einer Steuerpolitik. Solange sich die Posten für Bildung, innere Umrüstung, Forschung, Wissenschaft nicht mit den Posten für Autobahnen, Elektrifizierung usw. vergleichen lassen, kann Österreich nicht den Anspruch erheben, sich ernsthaft auf den schweren Konkurrenzkampf im Wettbewerb der Nationen auf den Weltmärkten der geistespolitischen Auseinandersetzung vorzubereiten. Wir bleiben ein fragwürdiges Völkchen von Menschen, die von der Hand in den Mund leben und die Phrase und die Fassade allzu ichverliebt lieben.

Steuer: das bedeutet ursprünglich eine außerordentliche, von den Ständen dem Landesherrn in Kriegszeit, in Notzeit bewilligte wirtschaftliche Hilfeleistung. Wir werden unserer innere Notlage nur steuern können, wenn unsere gesamte Finanz-und Steuerpolitik diesem Notstand Rechnung trägt. Dies gilt nicht nur einer steuerlichen „Begünstigung“ von Stiftungen und Spenden „privater“ Förderer und Institutionen für Kunst und Wissenschaft, sondern muß vor allem der Grundlegung dienen, dem Aufbau tragfähiger Fundamente.

Als ein solches Fundament soll eine österreichische Nationalstiftung errichtet werden: einmal als Dachverband, in dem alle Verbände und Institutionen vertreten sind, die sich bisher schon mit der Förderung von Wissenschaft, Bildung, Volksbildung, den Künsten befassen. Alle Ministerien, die Bundesländer, die Gewerkschaften, die Verbände der Industrie und Wirtschaft, der Massenmedien (Presse, Film, Funk und Fernsehen) haben hier eine Mitsprache. Neben der Koordination der schon bestehenden Arbeiten, neben der längst fälligen Koordination von Wirtschaftern, Wissenschaftlern und Politikern hat die österreichische Nationalstiftung die eine, wirklich alles überdachende Funktion zu übernehmen: Schwerpunkte zu bilden. Österreich zu einem Gastlande zu machen, in dem an zukunftsreichen Modellen gearbeitet wird. Unsere Grenzen müssen einladend werden. Institute der österreichischen Nationalstiftung sollen deshalb vor allem in den „leeren“ Räumen um Wien, in Niederösterreich und im Burgenland, lokalisiert werden. Eine Collegestadt vor den Toren Wiens sollte den Vergleich mit den großartig angelegten Zentren in Nijme-gen in den Niederlanden, mit französischen Forschungs- und Studienzentren wagen lassen.

Die Verfassung der österreichischen Nationalstiftung ist aller guten Arbeit wert: wenn sie gelingt, werden die Auseinandersetzungen in den obersten Räten der Nationalstiftung andere, tagespolitische, parteipolitische Streitigkeiten „ersetzen“. Die Entgiftung unseres „innenpolitischen Lebens“ durch die Selbstverpflichtung, große, langfristige Programme, Projekte, Bauvorhaben auszuarbeiten und durchzuführen, wäre ein nicht unwesentliches „Nebenprodukt“ dieser Produktion, die Österreich in Stand setzen soll, in Afrika, Asien, beiden Amerika und in Europa ein qualifizierter Mitarbeiter bei der Lösung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Probleme der Gesellschaft zu werden.

Eine Winterolympiade, eine Sommer-Gartenbau-Ausstellung, ein, zwei Dutzend Soldaten für Zypern sind nicht genug, um Österreichs not-> wendigen Beitrag für die innere Umrüstung, für die schweren Aufgaben des großen Friedens zu leisten.

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