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Die beiden Konsuln

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Wer den Lebenslauf des französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing studiert, muß zur Überzeugung kommen, daß an seiner Wiege einige wohlwollende Feen gestanden sind. Denn er verfolgte seine Karriere mit fast schlafwandlerischer Sicherheit und bis zum 19. Mai 1974 kann man in dem Aufstieg dieses Politikers überhaupt keinen Bruch entdecken. In kurzer Zeit wird nun Giscard d'Estaing das dritte Jahr seiner Amtstätigkeit beginnen. Aber seine guten Feen scheinen sich derzeit in die Weiten des Kosmos zurückgezogen zu haben. Glaubt man den verschiedenen Meinungsumfragen, so ist die Popularität des Ersten Staatsbürgers auf einem Tiefpunkt angelangt.

Als Giscard d'Estaing am 24. März 1976 seinen Ministerpräsidenten Jacques Chirac beauftragte, als Koordinator der Majorität aufzutreten, verlor er damit einen Teil seiner Autorität. Bisher war der Präsident der Republik gemäß Verfassung und Gewohnheit der eigentliche Chef al-

ler jener Gruppen und Parteien, die sich auf seinen Namen geeinigt hatten. Der Ministerpräsident konnte nur ausführen, was der Staatschef inspiriert hatte. Kein Leiter der Regierung, ob er nun Debre oder Pom-pidou hieß, stand im Gegensatz zu der Auffassung General de Gaulles, der Dank seiner charismatischen Persönlichkeit die wichtigste Quelle des politischen Lebens war.

Welches sind also die Ursachen, die Giscard d'Estaing in eine derzeit wenig komfortable Situation gebracht haben? Als er mit einer dünnen Mehrheit im Mai 1974 gewählt worden war, hatte er versprochen, das Regime gründlich zu reformieren, die Gleichung UDR — Staat zu beseitigen und jene Reformen einzuleiten, die seit Jahren auf der Tagesordnung innenpolitischer Debatten gestanden waren. Er und seine Berater definierten richtig die Situation. Er war von einer noch intakten gaullistischen Parlamentsfraktion abhängig, die mit 152 Mitgliedern und 22 Hospitanten der eigentlichen Partei Giscard d'Estaings, den Unabhängigen Republikanern, gegenübersteht. Letztere zählt nur 59 Mitglieder und 11 Hospitanten. Giscard d'Estaings Wunsch nach einer Neuverteilung der Karten, wurde von seinem engsten Vertrauten, dem amtierenden Innenminister Ponia-towski, geteilt.

Die UDR soll gemäß diesem Programm aufgerieben werden und einer mächtigen konservativ-liberalen Partei als Hilfstruppe dienen. Trotzdem wurde der letzte Schritt, Legislativwahlen auszuschreiben, nicht unternommen und das Schwergewicht in der neu gebildeten Majo-

rität hatte wieder die gaullistische Stammpartei. Diese war nicht gesonnen, alle Reformpläne und -wünsche des Staatsoberhauptes zu dulden. Darum mußten paradoxerweise bei zweien der wichtigsten Reformgesetze, bei der Liberalisierung der Abtreibung und der Vereinfachung des Gesetzes bezüglich der Ehescheidungen, die Stimmen der Sozialisten und Kommunisten akzeptiert werden. Denn die Mehrheit versagte dem Präsidenten ihre Unterstützung. Das Gewicht der Gaullisten macht sich besonders auf dem Sektor der Außenpolitik bemerkbar, wo Giscard d'Estalng nicht mit Nachdruck seine europäischen Konzepte verteidigen konnte.

Jacques Chirac hat es in den beiden Jahren unter Giscard d'Estaing verstanden, sich ein Image zu schaffen, das lange Schatten wirft und gelegentlich sogar das Licht, das der Staatspräsident ausstrahlen wollte, verdunkelt. Chiracs vorübergehende Tätigkeit als Generalsekretär der UDR bewies, daß er das Vertrauen seiner Partei besaß. Diese hatte die Niederlage im Wahlkampf von 1974 überstanden und trat mit Forderun-

gen auf, die nicht immer in das Programm Giscard d'Estaings einzufügen waren. Zahlreiche sachliche und persönliche Rivalitäten innerhalb der Majorität lähmten den Reformwillen des Staatschefs, der immer mehr auf das Stehvermögen und die etwas brutale Art seines Ministerpräsidenten angewiesen war. Dieser verstand es nämlich, mit rüden Worten die manchmal siegessichere linke Union in die Schranken zu weisen. Darum sah sich Giscard d'Estaing gezwungen, die Position Chiracs, sowohl in der eigenen Mehrheit wie in der öffentlichen Meinung, aufzuwerten. Der Ministerpräsident hatte schnell gehandelt und drückte sein Markenzeichen der UDR wie den unabhängigen Republikanern auf, die sich ohne besondere Reserven der zweiten staatlichen Autorität unterwarfen. Viel schwieriger war es für Chirac, das Zentrum für sich zu gewinnen, das seit Gründung der V. Republik gegen das gaullistische Regime aufgestanden war. Während der Präsident der Zentrumsgruppe, Lecanuet, und sein Generalsekretär Abelin nach außen hin die Formen wahrten und sich den Analysen Chiracs beugten, kam es zu einer Palastrevolution in der zusammengeschmolzenen Radikalsozialistischen Partei. Der frühere Präsident und Herausgeber des Wochenmagazins „l'Express“, Jean-Jacques Servan-

Schreiber, eröffnete das Feuer auf Chirac mit schwerster Artillerie. Er griff den Ministerpräsidenten in seiner Gazette auf das heftigste an. Obwohl Servan-Schreiber gegenwärtig über keine Hausmacht verfügt, kann er doch, dank seinem vorzüglichen Sprachrohr, Einfluß auf die politische Meinungsbildung nehmen. Mag auch das Führungsgremium der Radikalsozialisten ihren einstigen Präsidenten desavouieren — J.-J. S.-S. sagt lauthals heraus, was viele Radikalsozialisten im stillen Kämmerlein denken. Diese Parteimitglieder glauben eine Renaissance des UDR-

Staates wiederzuerkennen, eines Regimes also, das nicht bereit und in der Lage sei, weitere Reformen zu akzeptieren. Diese Spannungen im Regierungslager werden durch die Angst genährt, daß die jetzige Mehrheit nicht mehr fähig sei, einen weiteren nationalen Wahlgang siegreich zu bestehen. Trotzdem schwört Chirac auf einen Erfolg im Jahre 1978 und entfesselt bereits jetzt einen permanenten Wahlkampf mit dem Ziel, Sozialisten und Kommunisten in die Defensive zu drängen.

In den Angriffen Servan-Schrei-bers ist zumindest ein Hinweis bemerkenswert. Es sind dies die Resultate der Wahlgänge von 1965 bis 1976. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1965 erhielt die linke Union 32 Prozent Bei den Parlamentswahlen von 1967 und 1973 stieg die Kurve der linken Union auf 43, dann auf 45 Prozent. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1974 erreichten die Linksparteien 49,3 Prozent, bei den eben abgehaltenen kantonalen Wahlen überschritt die linke Reichshälfte zum ersten Mal in der Geschichte der V. Republik die Traumgrenze von 53 Prozent. Ist also damit eine Entwicklung eingeleitet, die nicht umkehrbar ist und somit Sozialisten und Kommunisten in absehbarer Zeit veranlassen wird, die Regierung zu bilden? Man wird in den nächsten Wochen sehen, wieweit Chirac seine Mission erfüllt Eines ist bereits jetzt sicher. Frankreich besitzt von nun an zwei Konsuln und es wird sich zeigen, ob die intellektuelle Höhe eines Giscard oder ob die Holzhammerpolitik Chiracs die verschiedenen Zentrifugalkräfte der Majorität zusammenschmiedenkann.

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