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Bäumchen, wechsle dich

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Wer sich während einiger Monate intensiv mit der Innenpolitik der V. Republik beschäftigt, wird manchmal an das alte Kinderspiel „Bäumchen, wechsle dich“ erinnert. Es vergeht fast keine Woche, in der nicht neue personelle Veränderungen in der Regierungsspitze oder der obersten Staatsführung von sogenannten Eingeweihten und Besserwissern verkündet werden. Ein nicht vollständig ausgesprochener Satz, das Schweigen zur gegebenen Minute regt bereits zu einer neuen Hypothese an. Zeitungen und Zeitschriften verdienen sich ihre Sporen, indem sie immer neue Kombinationen auf die Beine stellen, um sie bereits in der nächsten Nummer durch eine andere Version zu ersetzen. Die etablierte politische Gesellschaft von Paris — die Provinz hat nach einer eisernen Regel nichts mitzureden — gerät in zunehmende Aufregung. Bei den berühmt-berüchtigten Dejeuners in den Luxusrestaurants der Metropole schmieden die Parteistrategen ihre Aufmarschpläne und suchen sich nützliche Freundschaften zu sichern. Handelt es sich um einen Sturm im Wasserglas oder steht das nachgaullistische Regime vor einer tiefgreifenden Mutierung?

Der Gaullismus hat sich niemals durch besondere Informationsfreudigkeit ausgezeichnet. Im Halbdunkel des Widerstands geboren, belastet durch die schweren und blutigen Kolonialkriege, war diese Bewegung oft gezwungen, im geheimen zu agieren. Ihre Aktionen wurden der Öffentlichkeit in den Zusammenhängen erst viel später bekanntgegeben. Es gibt zwar einen Informationsminister, der jedoch abgesehen von der Überwachung des verstaatlichten Fernsehens keine nennenswerten Funktionen ausfüllt. Der Portefeuille-Inhaber darf lediglich nach einer im allgemeinen jeden Mittwoch stattfindenden Ministerratssitzung auf dem Bildschirm die Beratungen seiner Kollegen vorsichtig kommentieren.

Es darf erwartet werden, daß auch derzeit bei den diffizilen personalpolitischen Erörterungen die Einsicht in die Ereignisse nicht gewährt und weiterhin die Politik der verschlossenen Tür aufrechterhalten wird. Die verschiedenen rivalisierenden Clans der Mehrheit überbieten sich in der Art, besonders den politischen Wochenmagazinen Artikel zugänglich zu machen, in denen dem Publikum der eine Kandidat als möglich, der andere als in Ungnade gefallen vorgestellt wird. Ein typisches Beispiel hiefür war ein Aufsatz in dem regierungsfreundlichen, aber dem ehemaligen Ministerpräsidenten Chaban-Delmas nahestehenden Magazin „Le Point“. Im Dezember verkündete dieses noch nicht lange bestehende Blatt, Ministerpräsident Messmer müßte sofort abgelöst werden.

Diese oft fiebrigen Intrigen einzelner Gruppen im Vorhof der Macht müssen vor den hohen Mauern des Elyse haltmachen. Was immer auch die Barone des Gaullismus, mögen sie Debre, Chaban-Delmas oder Olivier Guichard heißen, und die Technokraten Giscard d'Estaings aushek-ken und planen, sie sind gezwungen, dem Willen des Staatsoberhauptes zu folgen, solange die gegenwärtige Verfassung besteht. Noch immer trifft in Frankreich bis 1976 nur ein Mann die politischen Entscheidungen. Es ist dies der Nachfolger General de Gaulles und er heißt Georges Pompidou. Wenn der erste Mann des Staates durch Krankheit ausfällt und gezwungen ist, zu demissionieren, werden die Karten neu gemischt und auf den Tisch gelegt. Erst dann eröffnen sich für die Diadochen jene

des amtierenden Ministerpräsidenten handelt. Der Ressortchef für Raumplanung, Baron Olivier Guichard, wäre sowohl den orthodoxen Gaullisten wie den Liberalen in der Partei der Unabhängigen Republikaner genehm. Außenminister Jobert, der stärker in den Vordergrund rückt und den problematischen Alleingang Frankreichs in Europa und der Welt vorbereitet, ist ein genauso vorzügliches Werkzeug Pompidous, wie es seinerzeit der Außenminister Couve de Murville für seinen General war. Ein letzter Versuchsballon wurde Anfang Februar gestartet. Demnach soll Finanzminister Giscard d'Estaing das gestörte Vertrauen zwischen Volk und Regierung wiederherstellen und den Wahlkampf 1976 vorbereiten. Trotz einer lawinenhaft anschwellenden Inflation und des zunehmenden Steuerdrucks erfreut sich der Finanzminister einer unbegreiflichen Popularität. Er führt die Liste der Männer an, denen die Meinungsforscher größte politische Chancen einräumen. Aber wurde das Fell des Bären nicht zu schnell verteilt und Messmer bereits in die Wüste geschickt, obwohl er weiterhin auf die Zusammenarbeit mit dem Staatsoberhaupt zählen kann?

Die heftigen Debatten und die oft bittere persönliche Polemik verbergen zu sehr die wahren Probleme von Staat und Nation. Während die Auffächerung Europas gefährliche Formen annimmt, der westliche Kommunismus eine großangelegte Offensive einleitet, werden die west-

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