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Europasommer

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Noch schwitzen die Briten an den Stränden des Kontinents in ihrem Sommerurlaub, da zeichnet ihnen ihr berühmtester Karikaturist Cummings ätzend den Part ihrer Politiker in Westminster: Ted Heath, souverän als Dirigent das EWG- Konzert seiner Konservativen leitend, Harold Wilson nebst seinen Parteifreunden Jenkins, Castle und vielen anderen am Dirigentenpult — aber kein Musiker im Orchester.

Tatsächlich: Cummings hat damit auch das Dilemma seiner Landsleute im Sammer vor der „wichtigsten Entscheidung in der Geschichte Großbritanniens seit dem Normannensturm“ (so Exaußenminister Brown) trefflich festgehalten. Die öffentliche Meinung ist, so man Meinungsforschungen trauen darf, angesichts der Argumentation von EWG-Freund und -Feind gerade daran, umzuschwappen. Waren die EWG-Gegner der Insel fast im Besitz einer Zweidrittelmehrheit imaginärer Befragter, so soll sich bereits eine — allerdings schwache — Mehrheit für Heath und sein Verhandlungsergebnis abzeichnen.

Die Konservativen spekulieren auf Hausse: die EWG könnte die Wirtschaft wieder in Schwung bringen, indem die radikalen Gewerkschafter im großen Markt leichter durch die harte internationale Konkurrenz an die Wand gedrückt werden könnten. Und zusammen mit Schatzkanzler Barber’s Budgetpolitik ist das gar kein so utopischer Plan.

Freilich: wie eh und je hetzt Rechtsaußen Powell gegen die Europa-Euphonie seiner Parteifreunde — und das landauf, landab. Zuletzt maß er sich mit Ex-EWG- Präsident Hallstein im Fernsehen-, sein Succus: die Briten sind eben anders — weil sie eben anders sind.

Harold Wilson ist da weniger konsequent. Aus dem Europäer in Downing Street 10 wurde ein mißgelaunter Oppositioneller, dem die eigenen Parteiflügel das Leben sauer machen. Auch Englands Presse springt nicht eben freundlich nach seiner Kehrtwendung um: da ist die Rede von seinen zunehmend schlechten Reden, seinen Ausfällen gegen seine früheren Mitarbeiter, seine taktischen Fehler und ungeschickten Fernsehauftritte: kurz, Wilson dürfe, wenn er schon Akrobat spielen will, nicht plump sein.

Überdies liegen Wilsons Memoiren seit kurzer Zeit in den britischen Schaufenstern und lassen seinen Landsleuten Zeit, sich näher mit dem Charakter des Mannes zu beschäftigen, der sich so offenbar rechtfertigen wollte und gerade deshalb in die Schußlinie der Kritik geriet.

Angesichts dieser Zerrissenheit der Labour Party kann durchaus die Möglichkeit bestehen, daß Wilson im November von der Fraktion nicht mehr bestätigt wird — wenn zu diesem Zeitpunkt bereits in Westminster die Entscheidung für oder gegen den EWG-Beitritt gefallen ist. Gerade auf das unbekannte Danach aber spekuliert Wilson: dann, wenn die Preise für die Lebenshaltung unweigerlich steigen und Heath genau in der gleichen Preisspirale sitzt, die Wilson umklammert hatte. Die englische Inflationsrate hat auch in den letzten Monaten keine Verflachungstendenz gezeigt. Im Juni lag der Index der Detailhandelspreise um 10.3 Prozent über dem Vorjahresstand.

Die Sechserrunde in Brüssel wird also im Herbst, wenn im englischen Parlament die Würfel endgültig gefallen sind, jedenfalls noch nicht damit rechnen können, mit den Engländern Teatime zu pflegen und sich einem neuen Europagefühl hinzugeben. Aber vielleicht ist man in Brüssel ohnehin mit anderen Zusatzsorgen gründlich beschäftigt.

Da kritisiert der deutsche EWG- Spitzendiplomat Rolf Dahrendorf als „Wieland Europa“ ganz offen in deutschen Zeitungen die Brüsseler Usancen, die zu erreichen ja nicht eben ein Kinderspiel war. Dahrendorf aber ist Parteifreund zu Walter Scheel, Außenminister und Chef der Freidemokraten — was nicht eben von besonderer Strahlkraft der deutschen Positionslichter auf der europäischen Szene zeugt. Offenbar ist man in Bonn nach wie vor mit anderen Primärzielen befaßt. Dabei könnten die Deutschen nur allzu leicht in die Hinterhand geraten; denn was hat denn die Widerstände Frankreichs gegen Englands Marktbeitritt beseitigt, wenn nicht die Interessenallianz mit London gegen die Deutschen? Man müßte sich das in Bonn immer wieder in Erinnerung rufen, um von Brüsseler Entwicklungen in Zukunft nicht überrascht zu werden. Denn wo Briten in internationalen Gremien sitzen, sind sie keine Störenfriede, sondern fleißige und konsequente Interessenwahrer — ob in der UNO, der NATO oder der WEU, was auch die regierungsfreundliche „Zeit“ der Bonner Diplomatenfabrik rät.

Ein heißer Sommer (allerdings nur im klimatischen Sinn) dürfte aber darüber hinaus den Technokraten der EWG für eine gründliche Regeneration vor den nächsten Runden dienen; dann, wenn die Dänen mit ihren Landwirtschaftssorgen, die Norweger mit ihrem Fischfangdilemma und die Iren mit ihren atlantischen Armenhausproblemen auftauchen.

Und erst dann ist damit realistisch zu rechnen, daß das Verhandeln mit den drei Neutralen — unter ihnen Österreich — weitergehen wird. Dabei werden die Schweizer wohl die wichtigsten, weil schwierigsten Gesprächspartner sein, obwohl das Züricher „Sonntagsjournal“ bereits heute über die Konzeption Berns orakelt und böse Zungen zitiert, die meinen, daß die „Konzeption gehütet wird, weil es keine Konzeption gibt“. Das renommierte Magazin bemüht die Parabel mit dem Kaninchen und der Schlange — wobei es allerdings der eigenen Regierung die Rolle des Kaninchens zumißt.

Jedenfalls: die europäische Szene ist trotz der Faszination, die augenblicklich die Berlin-Verhandlungen ausüben, und trotz der Sommerhitze bewegt. Seit längerer Zeit mischen sich selbst Stimmen aus dem Osten wieder in die Diskussion. Während die sowjetische „Iswestija“ neuerlich die Neutralen vor allen EWG-Ex- perimenten warnt und insbesondere die Schweden abmahnt, schreibt die polnische „Zycie Literackie" das nieder, was man wahrscheinlich in mehreren osteuropäischen Metropolen denkt: daß nämlich die Zeit endgültig vorbei sei, da man im Ostblock die politische Realität Westeuropas mit Geringschätzung behandelte; und daß das Phänomen selbständiger, dynamischer und autonomer Subsysteme auch für den Ostblock positiv bewertet werden müßte.

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