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Kein Zurück zu Fahrenheit

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Als vor vierzehn Tagen die Verhandlungen über einen Beitritt Großbritanniens zur EWG in Brüssel endgültig wegen des „Diktats“ de Gaulies scheiterten, ging in London eine politische Zeitbombe hoch, deren explosive Kraft auf dem Kontinent kaum erahnt werden kann. Kämpften zunächst noch die Leitartikler der nationalen Presse mit ihren Aufsätzen über die Lage, die durch den Tod Hugh Gaitskells entstanden war, um die Aufmerksamkeit der Leserschaft, verdrängten eine Reihe von Ereignissen dieses Thema von den ersten Seiten der Zeitungen. Der erschöpfte Lordsiegelbewahrer Heath versuchte das Unterhaus zu überzeugen, daß nur die engstirnige Haltung eines einzigen Mannes ein „Großeuropa“ verhindert habe. Abgeordnete, Publizisten und Hochschulprofessoren überboten einander mit historischen Parallelen. Der „Economist“ verglich ihn mit Ludwig XIV. und sprach von ihm als dem neuen „Sonnenkönig“. Allgemein wurde er auch mit Napoleon gleichgesetzt, und so mancher Karikaturist konterfeite ihn als Karl den Großen. Selbst in der Hysterie der „ersten Tage nach Brüssel“ raunte man sich aber hämisch zu, daß der General schließlich nicht ewig leben werde.

All dies beeindruckte freilich die Opposition nur wenig. Harold Wilson — seither zum neuen Labour-Leader gewählt — rief aus, es dürfe nie wieder geschehen, daß ein britischer Minister in der Kälte warte, während andere in der Wärme über Fragen entschieden, die für Großbritannien wichtig seien. Die nüchterne Einstellung eines Teiles der Regierung verhinderte auch nicht, daß Mr. und Mrs. Everyman ihren Unwillen über den Zusammenbruch der Brüsseler Verhandlungen in Leserzuschriften in teils drastischer, teils komischer Art ausdrückten. So meinte eine biedere Lehrerin in einem Brief an den „Guardian“, daß es „nach Brüssel wieder an der Zeit wäre, zu Fahrenheit zurückzukehren“. Offenbar berührte die Dame damit eine Herzenssache vieler Engländer. Denn manche Abgeordnete fragten im Unterhaus, ob man jetzt die Vorbereitungsarbeiten zur Einführung des Dezimalsystems in Großbritannien einstellen werde. Genau diese Maßnahme wurde in unzähligen Leserzuschriften vorgeschlagen. Diese Haltung, man sollte mit Fahrenheit und mit einem Festhalten an einem komplizierten Maßsystem für Brüssel Repressalien üben, entspricht dem üblichen Denkschema der englischen Mittelklasse. Unbewußt liegt diesem das Gefühl zugrunde, daß nicht Großbritannien etwa Europa brauche, sondern umgekehrt: Europa ohne die britischen Inseln nicht existieren könne. Haben nicht wir Engländer „those continentals“ im Jahre 1940 vor dem Verderben gerettet? Diese Frage taucht so oder ähnlich in jedem Gespräch auf, das über Brüssel geführt wird. Und selbstgefällig fügt man dieser Frage sofort hinzu: „Nicht für uns war Brüssel eine Katastrophe, nein, für Kontinentaleuropa. Sie werden schon sehen.“

Commonwealth: keine Alternative

Mit Ausnahme des von Lord Beaver-brook herausgegebenen „Daily Express“ schlüpfte in die ersten Kommentare über den Zusammenbruch von Brüssel Bedauern, Ärger und Ratlosigkeit. Es fehlte nicht mehr viel zu einer Katastrophenstimmung. Aber getreu der pragmatischen Tugend der Engländer, die Politik mit dem Kopf und dem Rechenstift betreiben und nicht mit Illusionen und Sentiments, machte man sich an eine kühl abgewogene Bestandsaufnahme. Aus den vielen Glossen und Leitartikeln, Reden in der Unterhausdebatte der vergangenen Woche, Stellungnahmen von Hochschulprofessoren zur Lage, lassen sich folgende, für Großbritannien offene Alternativen herauslesen:

1. Stärkere wirtschaftliche und politische Bindung innerhalb des Commonwealth;

2. Beschleunigter und strafferer Ausbau der EFTA;

3. Assoziation mit der EWG.

In der innenpolitischen Debatte, die in der Zeit zwischen der Bekanntgabe des Beschlusses Macmillans vom Sommer 1961, der EWG beizutreten, und dem Zusammenbruch der Verhandlungen von Brüssel, im Jänner 1963, nie abriß, wurde schon immer das Commonwealth der Integration Großbritanniens in den Gemeinsamen Markt entgegengesetzt. Was lag daher nach dem Veto de Gaulies näher, als die Bande mit den Commonwealth-Ländern zu verstärken. Es schien der natürliche Ausweg aus der neuen Lage. Diese offensichtliche Möglichkeit hält einer genaueren Prüfung allerdings nicht stand. Lange bevor es eine EWG oder EFTA gab, begann der Anteil des Commonwealth am britischen Außenhandel rapid zu sinken. Betrug 1951 die Ausfuhr noch rund 50 Prozent, war sie bis 1954 schon auf 42 Prozent gesunken und ging bis 1962 weiterhin, auf rund 32 Prozent zurück. Die Commonwealth-Länder Afrikas und Asiens sind meist von nationalistischen Politikern geführt. Es wird für äußerst wahrscheinlich gehalten, daß ein britischer Versuch, das Commonwealth zu straffen, nur den einen Erfolg hätte, daß Großbritannien eines neuen Imperialismus bezichtigt wird. Den Trend des Außenhandels mit den Commonwealth-Mitgliedern umzukehren, hält man während der nächsten 25 Jahre für kaum möglich, und den Vorwurf eines Imperialismus will und kann sich Großbritannien angesichts der Ost-West-Situation schon gar nicht leisten. Diese Alternative fällt damit aus.

Stärkere Aktivität in der EFTA?

Die soeben in Genf stattgefundene EFTA-Tagung und ein verhältnismäßig gutes Abschneiden im Export nach dieser Ländergruppe im Vorjahr brachten einen beschleunigten Ausbau der Freihandelszone als weiteren Ausweg ins Gespräch. Die EFTA wurde zwar seinerzeit hauptsächlich gegründet, um einen kollektiven Brückenschlag zur EWG eher zu finden; diese Beschränkung müßte jedoch, so wird argumentiert, nicht bleiben. Das „National Institute for Economic Research“ in London (etwa mit dem österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut vergleichbar) veröffentlichte 'in seinem Februarheft eine Studie, in der es die wirtschaftlichen Folgen untersucht, die sich aus dem Brüsseler Fiasko ergeben haben. Darin heißt es, daß es für die Handelsbilanz ziemlich ohne Bedeutung ist, ob Großbritannien Mitglied der EWG oder nur der EFTA ist. (In den einzelnen Wirtschaftssektoren und Industriezweigen wirkt sich dies allerdings anders aus: die einen profitieren, wenn Großbritannien außerhalb der EWG bleibt, die anderen werden dadurch einen Rückschlag unterschiedlicher Stärke erleiden.)

Bis zum Jahre 1970 heben sich die Vor- und Nachteile auf; falls Großbritannien der EWG beigetreten wäre, würde es rund 146 Millionen Pfund Sterling gewonnen, aber auch 146 Millionen verloren haben; außerhalb der EWG als Mitglied der EFTA verbleibend, erzielte es einen Gewinn von 109 Millionen Pfund, dem ein ebenso großer Verlust gegenüber stünde. Das angesehene Institut kommt schließlich zu dem Schluß, daß „pro Saldo der Schaden für unsere Handelsbilanz, den wir allein auf Konto von Zollveränderungen als Ergebnis unseres Ausschlusses aus der EWG erleiden, wahrscheinlich ein kleinerer ist als der Schaden, den wir andernfalls gespürt hätten“. Jedenfalls dürfe man nicht die Proportion dieses Schadens vergessen: er würde in keinem Fall mehr aU ein Kfi zwei Prozent der Gesamtausfuhr betragen.

Die Studie des National Institute kam gerade zur rechten Zeit. In seiner zweiten Rede, in Westminster, über die Brüsseler Verhandlungen Anfang vergangener Woche wies Minister Heath bereits auf den Umstand hin, daß „die britische Industrie die Möglichkeiten der EFTA für den Export unterschätzt“ habe. Vieles spricht daher für eine kommende verstärkte englische Aktivität in der EFTA. Dennoch teilen eine Reihe von Wirtschaftspublizisten diese Ansicht nicht. Samuel Brittain vom „Observer“ und die Kommentatoren des „Economist“ lehnen eine verstärkte Bindung im Rah-' men der EFTA ab, weil dies ihrer Meinung nach „den Graben in Europa unnötigerweise verbreitern würde“. Die Zukunft wird entscheiden.

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