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Dreiteilung des freien Europas

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I. Neuer Stand des Integrations- konfliktes

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I. Neuer Stand des Integrations- konfliktes

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Vom Standpunkt der Vblker- psychologie ist es gewiB ein Mangel, daB sich Westeuropa bisher nicht ent- schliefien konnte, uber die ungliick- liche politische Konfiguration Europas nach dem zweiten Weltkrieg neue Landkarten zu verbffentlichen, die jedermann die tragische Zweiteilung des Kontinents drastisch. aber wahr-

heitsgetreu vor Augen,, fuhren, damit der Eiserne Vorhang. u,i?d die Demar- kationslinien, die den Westen vom Osten trennen, alien Biirgern der freien Staatenwelt stets gegenwartig sind. Dieser Schritt unterblieb, weil die Sowjetunion und ihre Satelliten sofort die falsche SchluBfolgerung ge- zogen batten, der Westen stiinde zu- mindest in der Frage der Wiederver- einigung Deutschlands vor einer gei- stigen Kapitulation. Es . ist daher ge- rechtfertigt, von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, dab der kommunistische Ost- block — RuBland, Polen, Ostdeutsch- land und die Tschechoslowakei, Un- garn, Rumanien, Bulgarien und Albanien — in Europa 241 Millionen Menschen und ein Gebiet von 6,17 Millionen Quadratkilometern be- herrscht, wahrend der freie Westen 344,6 Millionen Einwohner zahlt und ein Territorium von 4,68 Millionen Quadratkilometer sein Eigen nennt.

Trotz dieser bedenklichen Situation leistet sich Westeuropa den Luxus einer handelspolitischen Zersplitterung in drei Staatengruppen: Gegenwartig umfaBt die Europaische Wirtschafts- gemeinschaft (EWG) mit Griechen- landi 174,5 Millionen auf 1.3 Millionen Quadratkilometer, die Frei- handelszone (EFTA) mit Filmland 92,9 Millionen auf 1,68 Millionen Quadratkilometer und die an der Peripherie des Kontinents gelegenen neuen Randstaaten - Spanien. Hand und Island, Jugoslawien und die Tiir- kei _ 77,2 Millionen Bewohner auf 1,7 Millionen Quadratkilometer. Selbstverstandlich besteht eine sehr groBe wirtschaftliche Uberlegenheit des Westens uber den Osten, dfe merkwiirdigerweise unterschatzt wird. Dieser Vorrang ware jedoch in der Praxis bedeutend wirksamer, wenn einmal die wirtschaftliche Integration des freien Kontinents gelingt.die in erster Linie einen Abbau der Zblle in Etappen voraussetzt, dem spaterhin allerdings andere Mafinahmen Joi gen miibten, vor alletn auf dem Gebiete des Verkehrs und der Wahrungen.

EWG: im Bannkreis der NATO

Trotzdem dieses Prinzip allgemein gebilligt und von der Bevblkerung Uberall als richtig anerkannt wurde, haben sich bei seiner praktischen Durchfuhrung unglucklicherweise die

Wege getrennt. Die EWG ist, wie es ihre Grunder im „Romer Vertrag” einwandfrei festgelegt haben, eine politische Gruppe, die im Sinne der neuen Impulse Washingtons jetzt nach Moglichkeit auf alle Mitglieder der NATO erweitert werden soil, damit die finanziellen Subsidien der Ver- einigten Staaten gekiirzt werden kbn- nen, die kiinftig in erster Linie zur wirkungsvollen Stiitzung der Entwick lungslander in. Asien, Afrika und Sudamerika bendtigt w.erden. Es-.ist be- greiflich, daB Amerika, das zur Sanierung seiner passiven Zahlungs- bilanz auBerdem seinen Export nach Westeuropa steigern rnuB, infolge der historisch bedingten Vielstaaterei und der Kleinheit der Lander wenig Ver- standnis fur den bodenstandigen Foderalismus Europas aufbringt, son- dern auch in seiner Handels- und Wirtschaftspolitik nach Moglichkeit mit einem einheitlichen Westeuropa operieren mochte, als dessen Haupt- machte Frankreich und Westdeutsch- land, Italien und GroBbritannien auf- treten.

Die EFTA, die gleichfalls eine wirtschaftliche Zusammenarbeit an- strebt, ist jedoch ausschlieBlich eine handelspolitische Organisation, die zunachst die Zolle abbauen will, woraus sich im freien Verkehr von selbst wei- tere Konsequenzen in den einzelnen .Wirtschaftszweigen einstellen. AuBerdem war die Konvention von Stockholm, auf der die Freihandelszone ruht, ein Akt der Selbstverteidigung gegen die feindliche und einseitige Diskriminierung, die die Brusseler Zentrale der Wirtschaftsgemeinschaft ohne weiteres gegen Osterreich, Schweden und die Schweiz, GroBbritannien, Norwegen, Danemark und Portugal zur Anwendung brachte. Die EFTA versicherte zu wiederholten Malen, sie sei — unter voller Be- achtung des Prinzips der Gleich- berechtigung — jederzeit zu Verhand- lungen iiber einen ..Briickenschlag” auf multilateraler Basis bereit, aber Brussel stellte sich taub und enthielt sich jeder verbindlichen Gegen- aufierung, weil die Wirtschaftsgemeinschaft eine Sprengung der Freihandelszone durch bilaterale Besprechungen und den Abschlufi isolierter Einzel- arrangements nach dem Muster ihres Abkommens mit Griechenland durch- driicken will, damit die absolute Hegemonic der Achse Bonn—Paris be- stehen bleiben kann.

Geriichte aus London

Zunachst war diese handelspolitische Konstellation vollkommen klar und iibersichtlich, bis Geriichte, Nachrichten und Kombinationen uber eine Separataktion GroBbritanniens und seinen bevorstehenden isolierten Beitritt zum Vertrag von Rom auf- tauchten. Abgesehen von den Bin- dungen der EFTA, die in Kraft bleiben und keinesfalls von heute auf morgen gelost werden kbnnen, hat aber das konservative Kabinett MacMillan, das sich auBerdem auf die Neuwahlen zum Unterhaus vorbereitet, zwei wichtige Voraussetzungen zu klaren: die Halturig des’Commonwealth und das aufierst schwierige Agrarproblera. Auf Grund dieser Erwagungen stellte sich London bisher auf den Standpunkt, ein Beitritt zum sogenannten „Romer Vertrag” in seiner augen- blicklich starren Form ware unmog- lich, worauf Brussel sofort erwiderte, eine Revision der Magna Charta der Wirtschaftsgemeinschaft sei aus- geschlossen. Immerhin konnte man sich vorstellen, daB zu diesen kri- tischen Punkten einige Klauseln und Formulierungen erfunden wurden, die fur beide Teile tragbar waren, unter der Voraussetzung, daB man wirklich eine Verstandigung wunscht und nicht nur Scheingefechte fiihrt. Ungemein kompliziert und geradezu aussichtslos erscheint jedoch die Agrarfrage; denn Frankreich beharrt orthodox auf einer vollwertigen Eingliederung der Land- wirtschaft alter Mitglieder in die ge- meinsame Wirtschaftspolitik der EWG, der sich, wie man in Paris einmal ge- sagt hat, GroBbritannien eben durch eine Reform seiner Preispolitik und eine Herabsetzung seiner Agrar- subventionen anpassen miisse. Jeden- falls fallen die politischen Entschei- dungen zwischen Bonn, Paris und London; denn Rom, Brussel und Den Haag spielen nur eine untergeordnete Rolle. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich, daB der Kontinent von einem ..Briickenschlag”, neuen Sonderver- tragen und einer Verstandigung zwischen den drei Hauptmachten, mit der sich die kleinen und mittleren Staaten abfinden mussen, noch weit entfernt ist. Alle Beteiligten stehen vielmehr erst vor Beginn der gegenseitigen Son- dierungen und Besprechungen. Diese Tatsache veranlaBte auch einen er- fahrenen Diplomaten zum skeptischen Ausspruch, bis zum Inkrafttreten eines tragbaren Ausgleiches zwischen EWG und EFTA durch den gleichzeitigen AbschluB von sieben identischen Einzelvertragen diirften noch an- nahernd zwanzig Monate verstreichen. Nachdem die GroBe Freihandelszone und der multilaterale ,,Briickenschlag” am Widerstand von Bonn und Paris gescheitert sind, tragt die Verant- wortung fur den weiteren Verlauf der Integrationskampagne jetzt die Zentrale in Brussel.

Viel wichtiger sind jedoch einige rein okonomische tlberlegungen.

Frankreich und Westdeutschland gel- ten als Staaten mit hohen Preisen, und selbst in Italien ist eine Teuerungs- welle im Gange, so daB Osterreich trotz der neuen Lohn- und Preis- erhbhungen heute als ein Land mit niederen Preisen der Lebensmittel an- gesehen wird, ahnlich GroBbritannien und der Schweiz. Dagegen sind die Preise fur Schuhe, Kleidung und Textilien erheblich hbher als im Aus- land. Jeder vollwertige Beitritt zum „Rdmer Vertrag”, der nicht gleich- zeitig fiir einen ausreichenden Schutz der heimischen Textil- und Kon- fektionsindustrie sorgt, fiihrt un- weigerlich zu einer verscharften Kon- kurrenz auf dem Inlandsmarkt, der von I ohnkonflikten begleitet sein diirfte. Merkwiirdigerweise betrachten Handel, Gewerbe und Industrie jede Integration ausschlieBlich unter dem Ge- sichtswinkel einer Sicherung ihrer Ex- porte nach Italien und Westdeutschland und iibergehen die Importseite mit Stillschweigen, obwohl der Waren- verkehr mit der Europaischen Wirt schaftsgemeinschaft im Vorjahr einen ImportiiberschuB von 6,16 Milliarden und im ersten Quartal 1961 sogar ein Defizit von 1,92 Milliarden Schilling gebracht hat.

Die Gemeinschaft der Neutralen

Da die EWG in den Bannkreis der NATO geraten ist, ergab sich auto- matisch eine nachdriickliche Betonung der Sonderstellung der drei neutralen Staaten Osterreich, Schweden und der Schweiz, die sich von jeder politischen und militarischen Gruppenbildung fernhalten wollen. Ob und in wel- :her Form eine Assoziierung Oster- reichs mit der Wirtschaftsgemeinschaft in Hinblick auf die Neutrali- tatspakte mbglich ware, gehbrt in den Bereich der volkerrechtlichen Interpretation, wobei Wien dem Beispiel Berns folgt. Wahrend die egoistische Interessentenpolitik, die leider das ge- samte Wirtschaftsleben beherrscht, rasche Losungen auf kurze Sicht ver- langt, bevorzugen alle Koalitions- politiker eine vorsichtige Taktik, urn iiberstiirzte Beschliisse zu vermeiden und zunachst eine Klarung der kompii- zierten Fragenkomplexe nach alien Richtungen zu erwirken. Gegeniiber der Auseinandersetzung, die zwischen Bonn, Paris und London bevorsteht, ist es fiir einen Kleinstaat vorteilhafter, sich in keine Experimente einzulassen und auf der Basis der sicheren Neu- tralitat abzuwarten, aber in Einzel- fragen bereits jetzt administrative Losungen zu suchen und die Gemeinschaft der Neutralen zu pflegen, die in diesem Fall ohne weiteres mit der gegenseitigen Gewahrqng von Er- leichterungen verbunden sein konnte. Es gehbrt zur Tradition, daB jeder neue Regierungschef, ehe er andere offizielle Fahrten ins Ausland antritt, zuerst nach der Schweiz reist. GewiB wurde der Besuch des Bundeskanzlers Dr. Alfons Gorbach in Bern, der fiir Anfang September in Aussicht genom- men sein soil, auch einen willkom- menen AnlaB fiir einen fruchtbaren Gedankenaustausch iiber das Inte- grationsproblem bieten.

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