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Die Sprache der Zahlen

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Die Auseinandersetzungen Uber Österreichs Wirtschaftspolitik in Europa sind in der Öffentlichkeit etwas zurückgetreten: ihre Probleme aber sind geblieben. Es freut uns, den langjährigen Wiener Korrespondenten des bekannten Schweizer Weltblattes „Neue Zürcher Zeitung“, Friedrich W1 a t n i g, der jetzt in den verdienten Ruhestand getreten ist, mit einem Aufsatz, der sachlich-informativ die oft verschobenen und schief angesehenen Fragen ins rechte Licht rückt, als künftigen Mitarbeiter der „Furche“ begrüßen zu können.

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Die Auseinandersetzungen Uber Österreichs Wirtschaftspolitik in Europa sind in der Öffentlichkeit etwas zurückgetreten: ihre Probleme aber sind geblieben. Es freut uns, den langjährigen Wiener Korrespondenten des bekannten Schweizer Weltblattes „Neue Zürcher Zeitung“, Friedrich W1 a t n i g, der jetzt in den verdienten Ruhestand getreten ist, mit einem Aufsatz, der sachlich-informativ die oft verschobenen und schief angesehenen Fragen ins rechte Licht rückt, als künftigen Mitarbeiter der „Furche“ begrüßen zu können.

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Der Beitritt Österreichs zur Kleinen Freihandelszone, der auch Großbritannien, Skandinavien, Portugal und die Schweiz angehören, hat eine lebhafte Diskussion über die Zweckmäßigkeit dieses Schrittes hervorgerufen, obwohl es nach dem Scheitern der ursprünglich geplanten Großen Freihandelszone in Koalitionskreisen als durchaus selbstverständlich angesehen worden ist, daß Wien keine isolierten Experimente wagen dürfe, sondern gleichfalls dem klaren Weg folgen müsse, den Bern und Stockholm einschlugen. Eine Komplikation ergab sich daraus, daß die Opposition an die nationalen Gefühle appellierte und in der Bevölkerung noch immer Erinnerungen an die Streitfrage der Ersten Republik lebendig sind: „Anschluß oder Donauföderation?“ Die moderne Europapropaganda hat außerdem vielfach mit oberflächlichen Begriffen gearbeitet. Die sogenannte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist nämlich eine typisch klein-europäischeLösung, weil sie zwei wichtige Randgebiete — Großbritannien und Skandinavien — einfach ignoriert. Gewiß wurde später die Stellungnahme Portugals und Skandinaviens durch die engen historischen Beziehungen zu Großbritannien beeinflußt, aber Österreich, das unbedingt seine exponierte geographische Lage berücksichtigen mußte, besaß den Vorzug, sich einfach nach dem Beispiel der neutralen Schweiz richten zu können. Der Aufschwung, den die Zweite Republik seit Unterzeichnung des Staatsvertrages genommen hat, stellt die Handelspolitik jedoch grundsätzlich vor die neue Aufgabe, ihren Aktionsradius auf entfernte Gebiete und zahlreiche außereuropäische Länder auszudehnen.

Infolge der Diskriminierung durch die Wirtschaftsgemeinschaft unterliegt der Außenhandel nach Inkrafttreten der Konvention von Stockholm neuen Tendenzen. Gemessen am ersten Quartal des Vorjahres, sind von Anfang Jänner bis Ende März die Importe um 31,6 Prozent auf 8621 Millionen Schilling und die Exporte um 19,4 Prozent auf 6693,8 Millionen Schilling gestiegen. Zwischen der Wirtschaftsgemeinschaft und der Freihandelszone ist ein Kampf um den österreichischen Markt entbrannt, so daß sich manche ausländische Industrien beeilen, ihre Lieferungen noch vor den drohenden Zollkorrekturen durchzuführen. Aus diesen Gründen erfuhren die Importe aus Westdeutschland. Italien, Frankreich, Belgien und Holland eine Erhöhung um 26,7 Prozent auf 4,71 Milliarden Schilling, dagegen die Importe aus der Freihandelszone eine Steigerung um 62,2 Prozent auf 1,15 Milliarden Schilling. Unter diesen Umständen haben die Importe aus der Wirtschaftsgemeinschaft von 56,8 Prozent auf 54,7 Prozent abgenommen und aus der Freihandelszone von 10,8 auf 13,3 Prozent des Gesamtimports zugenommen. Ähnlich liegen die Verhältnisse beim Export, weil die Lieferungen nach Großbritannien, Skandinavien, Portugal und der Schweiz schon im ersten Quartal eine Erweiterung um 253,1 Millionen Schilling oder 41,1 Prozent auf 868,6 Millionen Schilling erzielten und sich damit der Anteil der Freihandelszone am Gesamtexport von 11 Prozent auf 13 Prozent erhöhte. Gewiß wird die überragende Stellung der Wirtschaftsgemeinschaft kaum beeinträchtigt, aber die gefährliche Tendenz, daß das österreichische Wirtschaftsleben von Jahr zu Jahr in eine stärkere Abhängigkeit von Westdeutschland gerät, ist zum Stillstand gekommen. Im Augenblick

Nach Unterzeichnung des Staatsvertrags hat der Außenhandel bekanntlich eine ungewöhnlich günstige Entwicklung genommen. Unter Ausschaltung der Marshall-Hilfe und der Reparationen sind in der knappen Zeit von vier Jahren die Importe um 29,3 Prozent auf 29,76 Milliarden Schilling und die Exporte um 38,5 Prozent auf 25,16 Milliarden Schilling gestiegen; ein Beweis der Konkurrenzfähigkeit der Industrie, die zur Annahme berechtigt, daß sich die im beschwörenden Ton vorgetragenen Klagen wegen der künftigen Exporte nach der Wirtschaftsgemeinschaft als übertrieben erweisen werden. Die allgemeine Ausweitung des Handelsvolumens ruht auf einem Wandel der einzelnen Warengruppen. Bis zum Staatsvertrag spielten die Hauptrolle beim Import Maschinen, Kohle und Kraftfahrzeuge, Obst und Gemüse, beim Export Holz, Eisen, Stahl und Papier. Seither hat eine Reihe anderer Erzeugnisse einen beachtenswerten Aufschwung erlebt. So sind in vier Jahren die Exporte von Kunstfasern um 60,9 Prozent, Maschinen um 82,7 Prozent, elektrischen Apparaten um 87,2 Prozent, Baumwollgeweben um 90,9 Prozent, elektrischem Strom um 115,5 Prozent und Kautschukwaren um 167.3 Prozent gestiegen. Der agrarische Sektor, besonders der Export von Milch, Butter. Käse. Leder und lebenden Tieren, erzielte eine beachtenswerte Expansion. Österreich verdankt diese Exportsteigerung vor allem einer größeren Spannweite seines Warenangebots, obwohl es sich gegenüber den außereuropäischen Ländern noch immer in einem bedenklichen Rückstand befindet. Nachdem heute überall ausschließlich vom notwendigen Nachwuchs an Architekten, Ingenieuren und andern Technikern gesprochen wird, darf in diesem Zusammenhang vielleicht einmal auf die Bedeutung der Handelshochschule hingewiesen werden, die so rasch als möglich neue Kräfte für die Handelsvertretungen im nahen und fernen Ausland heranbilden muß, deren Vermehrung eine dringende Staatsnotwendigkeit darstellt.

Wenn die Gründer und Vorkämpfer der Wirtschaftsgemeinschaft ohne Unterlaß die politische Tragweite der Verständigung zwischen Bonn und Paris ins Treffen führen, die Haag und Brüssel mit Erleichterung begrüßen, sollte anderseits nicht übersehen werden, daß Großbritannien nach Emanzipation seiner Kolonien gegenwärtig eine historische Wendung zum Kontinent vollzieht, wodurch die Freihandelszone einen starken Rückhalt gewinnt. Für einen neutralen Kleinstaat wäre es eine durchaus verfehlte Taktik gewesen, als isolierter Einzelgänger vor dem mächtigen, anspruchsvollen und bürokratischen Gebilde der Wirtschaftsgemeinschaft zu erscheinen, um einige Konzessionen zu erflehen, die jederzeit widerrufen werden könnten. Aus der Perspektive Wiens betrachtet, liegt der Schwerpunkt der Wirtschaftsgemeinschaft durchaus auf Westdeutschland, dessen Lieferungen vor zwei Jahren 72 Prozent und im Vorjahr 70,5 Prozent des Gesamtimports Österreichs aus der Wirtschaftsgemeinschaft umfaßten. Seit 1955 sind die Importe aus Frankreich um 7,9 Prozent, Belgien um 24,2 Prozent und Italien um 27,4 Prozent, dagegen aus Westdeutschland um 46,6 Prozent und Holland sogar um 60,3 Prozent gestiegen. Die beiden großen Gewinner auf dem österreichischen Markt sind daher Holland und Westdeutschland. Da dank der herrschenden Warenfülle heute ein Käufermarkt besteht, hat Westdeutschland selbst das größte Interesse, seinen Absatz in Österreich, Skandinavien, Großbritannien und der Schweiz zu sichern. Zweifellos wird früher oder später ein Ausgleich gelingen. Trotzdem benützte die Freiheitliche Partei, die als nationale Opposition viele Fragen nicht nach österreichischen, sondern nach deutschen Gesichtspunkten beurteilt, den Konflikt „EWG oder EFTA“ zur parteipolitischen Agitation, weil die ungemein komplizierte Materie eine günstige Gelegenheit bot, vor den entsetzten Augen der erschrockenen Wähler das Menetekel einer wirtschaftlichen Katastrophe an die Wand zu malen. In Wirklichkeit hat Österreich durch seinen Beitritt zur Freihandelszone eine Chance gewonnen, unter den denkbar günstigsten Bedingungen seinen Handel mit Großbritannien. Skandinavien und der Schweiz auszubauen, der noch immer zahlreiche Lücken aufweist.

Der Export nach den befreundeten Staaten der Freihandelszone ist im Vorjahr um 16,5 Prozent auf 2,9 Milliarden Schilling gestiegen. Die eigentliche Bedeutung des Zonenexports liegt jedoch im Umfang des Fertigwaren-e x p o r t s. Großbritannien, Skandinavien und die Schweiz übernehmen nur geringe Mengen von chemischen Erzeugnissen (3,5 Prozent), Lebensmitteln (4,6 Prozent), Rohstoffen (6,9 Prozent), Maschinen und Verkehrsmitteln (16,5 Prozent), aber der Export von österreichischen Halb- und Fertigwaren erreichte im Vorjahr mit 1,96 Milliarden Schilling 67,4 Prozent des gesamten Zonenexports. Die österreichische These, der Export sollte sich nicht auf Rohstoffe, sondern im Interesse der Handelsbilanz und der Vollbeschäftigung vorwiegend auf Fertigwaren stützen, wird im Rahmen der Freihandelszone in einer geradezu idealen Weise verwirklicht. Schweden und die Schweiz bezogen im Vorjahr neben Eisen und Stahl in gleicher Weise Kleidung, Garne, Gewebe, Aluminium, Kautschukwaren und elektrische Apparate, Großbritannien vor allem Feinmechanik (34,1 Millionen Schilling), Molkereiprodukte (66 Millionen Schilling) und Stickereien (121 Millionen Schilling). Ein Studium der Jahrbücher über die „Statistik des Außenhandels“, die das Wiener Statistische Zentralamt veröffentlicht, vermittelt die Erkenntnis, daß der Export noch Großbritannien und Skandinavien zahlreiche Möglichkeiten bietet. Auch die Textilindustrie, die gern über ihre Nöte und Schwierigkeiten zu Idagen pflegt, dürfte in Skandinavien sichere Absatzgebiete auf lange Frist finden. Jedenfalls haben Handel, Gewerbe und Industrie durch den Beitritt Österreichs zur Freihandelszone ein reiches Arbeitsfeld erhalten.herrscht eine Gegenbewegung zugunsten Groß britanniens, Skandinaviens und der Schweiz.

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