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Worauf wartet Frankreich noch?

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Schwerfällig schleppten sich die Verhandlungen über die europäische Freihandelszone, gebremst durch eine geschickte Verzögerungstaktik, schon seit vielen Monaten dahin. So Verwunderte auch kaum das Scheitern der Oktober-und Novembertagungen des Intergouvermentalen Komitees der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) in Paris. Sie waren trotz aller anfangs unternommenen zweckoptimistischer Beschönigungsversuche des Vorsitzenden, Mr. M a u d 1 i n g, ergebnislos. Der totale Zusammenbruch, hervorgerufen durch einen französischen Vorstoß, konnte nur mühsam verhindert“ werden.' Der jüngste englisch Schritt, sämtliche Arbeiten innerhalb der Kpmi-tees zu unterbrechen, zog daher nur die Konsequenz aus einer schon peinlich gewordenen Situation.

Wie hatte es so weit kommen können?

Auch das langersehnte Memorandum der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur Freihandelszone brachte nicht die notwendige Klärung. Monatelang ging das Ringen innerhalb der kleineuropäischen Gemeinschaft, in der sich Deutschland und Holland besonders für einen größeren Markt einsetzten.

Aus Reden von Politikern konnte entnommen werden, wie hart die Meinungen in diesem Lager aufeinanderprallten. Während auf einer Parteiversammlung der französischen Tadikal-sozialistischen Partei der ehemalige Ministerpräsident Maurice Faure offen von einer „Spaltung der EWG-Vertragspartner“ wegen der Freihandelszone sprach, und M. Reynand beteuerte, „selbst wenn eine, französische Regierung einen Vertrag über eine Freihandelszone unterzeichnen sollte, würde ihn das Parlament nicht ratifizieren“, erklärten deutsche Politiker, wie Minister Erhard, voll Optimismus für die gute Sache, daß die Freihandelszone auf jeden Fall zustande kommen werde.

Die beiden entscheidenden Schritte zur Gestaltung des EWG-Memorandums stellten die Konferenzen von Venedig und Brüssel nach den Sommerferien dieses Jahres dar. Hier wurde eine Reihe von technischen Einzelheiten ausgehandelt.

Aber die wirkliche Entscheidung über das EWG-Memorandum war weder in Venedig noch in Brüssel gefallen, sondern bereits in Colombey-les-deux Eglises. Denn Deutschland praktizierte „den gemeinsamen Weg Adenauers und de Gaul-les“ gleich bei der Schaffung dieses Memorandums, in dem es Frankreichs Vorschläge zum größten Teil annahm.

Gleichsam am Vorabend der Oktobertagung des Intergouvermentalen Komitees wurde dann das Memorandum der Sechs, das als schaler Kompromiß keine Offenbarung enthielt, den übrigen OEEC-Staaten präsentiert.

Die übrigen OEEC-Länder, vor allem die sogenannten „anderen Sechs“, Oesterreich, England, Schweiz und die drei skandinavischen Staaten, die sich schon im Frühjahr dieses Jahres durch eine gemeinsame Denkschrift ihrer Industriellen-und Arbeitgeberverbände zusammengefunden hatten, versuchten noch rasch in der letzten

Stunde — leider nur mit der linken Hand —, vor der Oktobertagung eine schlagkräftige Front aufzubauen. Insbesondere die Schweiz engagierte sich sehr. Doch die Verhandlungen in London, an denen Oesterreich nicht beteiligt war, führten zu keinem Erfolg, da sich vor allem Dänemark, das seit eh und je mit einem Anschluß an die EWG liebäugelte, wohl nicht zu sehr exponieren wollte. Der Schweizer Vertreter, Herr Schaffner, der sich sehr exponiert hatte, wurde von einem Teil der Presse seines Landes zurückgepfiffen. Zu verlockend klangen noch für manche Ohren die Sirenenklänge Präsident HallsteiHSf derdeiübrigen-:EEC-SfraWe4i- eine; bilateralen Anschluß an die EWG wärmstens empfahl. Und so kam es, daß vor der Herbsttagung kein Anti-EWG-Block zustande kam.

Das entscheidende Oktobertreffen,1) in dessen Pause nach Maudlings etwas phantastischer Absicht bereits der Freihandelszonenvertrag hätte paraphiert werden sollen, begann — wie nicht anders zu erwarten — in frostiger Stimmung.

23., 24. sowie 28. und 30. Oktober.

Etwas weitschweifig zählte Baron S n o y, der Direktor des Handelsdirektoriums der OEEC, die bisher geleistete Arbeit auf dem Gebiet des Warenursprungs sowie der Verzerrung des Außenhandels auf und schlug die Bildung eines weiteren Komitees vor.

Als einer der ersten Redner bedauerte im Anschluß daran Oesterreichs Außenminister F i g 1, der sich im europäischen Ministerkollegenkreis offensichtlich großer Wertschätzung erfreut, daß bei den Verhandlungen bereits viel Zeit verlorengegangen sei und fragte klar, welche Maßnahmen die EWG-Staaten ergreifen wollten, um UftSOMA Wirksamwerden des1- EWG-Vertragäs am 1' Jänner 1959 entstehende- Di;-' kriminierung der anderen OEEC-Partner zu vermeiden.

Der deutsche Staatssekretär Müller-A r m a c k, Vater der sozialen Marktwirtschaft, der als Sprecher der EWG auftrat, wich mit dem Hinweis aus, daß noch Hoffnung auf den Abschluß des Vertrages bestehe.

Mr. M a u d 1 i n g kritisierte • in gewohnter englischer Ruhe den Vorschlag des Handelsdirektorium:, den er „zeitraubend und umständlich“ fand.

Die große Ueberraschung brachte auf der in der Geschichte der Freihandelszone so bedeutenden Tagung der französische Delegierte. Er stellte, noch bevor das so lang ausständige EWG-Memorandum gründlich behandelt werden konnte, ein neues, völlig unvorhergesehenes Problem zur Debatte. Die Frage, die die Sitzung am Rande des Zusammenbruche brachte, lautete: Wie würde sich die Zollautcnomie innerhalb einer Freihandelszone dann auswirken, wenn von einem Staat einseitig Zollsenkungen gegenüber Drittländern vorgenommen werden sollten? Eine für Frankreich typische Kasuistik! Würden nämlich die Freihandelszonenstaaten einen gemeinsamen Außenzolltarif haben, wäre kein Unterschied mehr zur EWG vorhanden, der ja gerade in der Zollsouverpnität gegenüber Dritten besteht und somit die Freihandelszone ad absurdum geführt.

Die noch anfang November stattgefundene Sitzung des Intergouvermentalen Komitees diente ausschließlich dem Austausch kalter, höflicher Redewendungen und stand bereits im Banne einer stündlich zu erwartenden Explosion. Daß die englische Bombe erst Wochen später, durch die Erklärung Mr. Maudlings sämtliche Arbeiten zu unterbrechen, platzte, wundert niemand, der die Mentalität des Inselvolkes kennt.

Es ist bekannt, wie sehr die französische Industrie gegen eine Freihandelszone ist. Der entscheidende Grund dafür dürfte der sein, daß sie in aller Ruhe ihre Verflechtungen und Kartellübereinkommen mit der deutschen und der italienischen Industrie treffen möchte. Sollte eventuell später doch einmal eine Freihandelszone entstehen (Decalage), würden die Engländer zu spät kommen und das Nachsehen haben.

Es ist schwer abzuschätzen, ob Frankreich den größeren europäischen Markt grundsätzlich ablehnt (daß es ihn momentan nicht will ist klar, und nur weiterverhandelt, um das europäische Gesicht zu wahren), oder ob es sich in Form eines „Kuhhandels“ für die Freihandelszone eine bessere Position in der NATO und ein Eindringen in den Atomklub eintauschen möchte.

Sicher ist, daß de Gaulle mit der „Frankreich in der von den USA in der NATO zugedachten Satellitencolle“ unzufrieden ist und ein iranzöj sisch-afrikanisches Imperium anstrebt. Auch 'würden der Ruhm und die geschichtliche.Große“ Frankreichs in einer kleineuropäischen Lösung wie der EWG wohl besser zur Geltung kommen, als in einer 17 Staaten umfassenden Freihandelszone, die immerhin auch das im Commonwealth noch fest verwurzelte England umschließen würde.

Seit dem Scheitern der Herbsttagungen in Paris und der Erklärung Maudlings ist die Atmosphäre gespannt und gewitterschwül. Es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis die übrigen elf OEEC-Staaten zu Retorsionsmaßnahmen gegen die EWG schreiten. Ein Austritt aus der OEEC mit folgender Entliberalisierung des Handels und ein Zusammenbrechen der europäischen Zahlungsunion (EZU) würde Frankreichs Handelsund Zahlungsbilanz empfindlich treffen. Müßte es nicht dann trotz alles gallischen Stolzes in völlige Abhängigkeit von seinen übrigen EWG-Partnern, vor allem Deutschlands, geraten?

Auch ein stiller Boykott französischer Waren, durch die übrigen elf OEEC-Staaten konsequent durchgeführt, könnte Frankreich vielleicht zu einem Nachgeben in der Freihandelszone bewegen.

Aber wären diese Maßnahmen, von höherer Warte aus gesehen, nicht ein Schnitt ins eigene Fleisch? Nicht nur Frankreich, die ganze westliche Welt hätte darunter zu leiden. Ihr Verteidigungssystem, die NATO, die in der letzten Zeit durch den Zypern-, den isländischen Fischereikonflikt und die Kritiken de Gaulies in politischer wie Montgomerys, des Siegers von Alamein, in militärischer Hinsicht, bereits etwas angeschlagen wurde, würde einen Handelskrieg ihrer Mitglieder wohl kaum überleben

Nun, Frankreich wird es kaum zum Aeußer-sten kommen,lassen. Die für den 18. Dezember angekündigte ioprozentige Liberalisierung des Handels im Rahmen der OEEC läßt darauf schließen. Doch ist dies lediglich eine längst fällige Geste gegenüber den anderen Partnern, auf deren Kosten Frankreich seit eineinhalb Jahren entliberalisiert hatte.

Wäre letztlich eine Uebergangslösung, die am 1. Jänner 1959, dem Inkrafttretungsdatum des EWC, die übrigen elf OEEC-Staaten an der Zollsenkung und Aufstockung der Einführkontingente teilnehmen läßt, wirklich eine Lösung? Benötigt man in der Tat noch mehr Zeit zum Verhandeln, nachdem man bereits seit zweieinhalb Jahren auf diesem Gebiet nichts anderes getan hat?

Alle Interimslösungen, so beruhigend sie auch momentan klingen und wo immer sie auch beschlossen sein mögen, können nicht den Riß überbrücken, den ein weiteres Hinausziehen der Freihandelszonenverhandlungen in Westeuropa hinterlassen muß.

Auch Treffen von Staatsoberhäuptern, Gipfelkonferenzen werden, so sehr sie eine Solidarität nach außen zeigen, erfolglos sein, wenn die Länder nicht bereit sind, Opfer zu bringen, auf kleinliche, momentane Vorteile um einer großen, allgemeinen Gesamtordnungsidee willen zu verzichten.

Rein wirtschaftliche Erwägungen, das sei klar gesagt, haben in dieser Stunde politischem, und zwar großzügig politischem Denken nachzustehen.

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