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Verständnis für den „Sonderfall”

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Es ist klar, daß dieser Sonderzug den Hauptgegenstand der Gespräche in Bern wie auch der seither abgehaltenen EFTA-Ministertagung in Edinburgh bildete. 1961 wurde die erwähnte Erklärung zweifelsohne als moralische Verpflichtung der EFTA-Partner aufgefaßt, durch welche sich damals die „Kleinen” der EFTA gegen einen inzwischen nicht mehr aktuellen Alleingang Großbritanniens nach Brüssel abschirmen wollten. Heute ist zwar die taktischstrategische Situation völlig anders, aber die Londoner Erklärung ist sich gleich geblieben. Daß Österreich einen Ausweg aus seiner schwierigen integrationspolitischen Situation sucht, dafür hat man in der Schweiz gewiß Verständnis. Es wäre indessen falsch, so zu tun, als ob Volk und Regierung der Eidgenossen die Bedeutung eines österreichischen Ausbruchs aus der Solidaritätsfront der EFTA bagatellisieren wollten oder könnten. Die Bereitschaft der österreichischen Regierung, mit Brüssel ein Arrangement einzugehen, das der Londoner Resolution von 1961 zuwiderläuft, könnte in Bern nicht leichtgenommen werden. Die Sohweiz hat eh und je — nicht zuletzt aus ihrer neutralitätspolitischen Stellung und der damit verbundenen Rotkreuztradition heraus — dafürgehalten, daß eingegangene internationale Verpflichtungen strikte einzuhalten sind, weil diese Verpflichtungen und ihre getreuliche Beachtung die verläßliche Grundlage einer gesunden und stabilen völkerrechtlichen Ordnung sind. Über diesen grundsätzlichen Aspekt hinaus sind die Schweizer aufrichtig und egoistisch genug, um zuzugeben, daß ein Zerfall der EFTA-Solidarität, der von einem Ausbruch Österreichs aus ihr resultieren dürfte, der Schweiz auch in materieller Hinsicht Sorge machen müßte.

In der Sohweiz ist die Auffassung, ja Überzeugung tief verankert, daß die EFTA-Solidarität, die als Notbehelf empfunden wird, den EFTA- Staaten wider ihren Willen durch die Haltung der EWG aufgezwungen ist. Betriebe die EWG eine Politik der offenen Tür und böte sie den EFTA-Staaten echte Möglichkeiten des Anschlusses, so zerfiele die EFTA-Solidarität rasch. Solange aber die EWG trotz heftiger interner Opposition an ihrem heutigen exklusiven Kurs festhält, ist die EFTA-Solidarität nach schweizerischer Überzeugung eine Notwendigkeit. Die Schweiz als kleines und durch ihre Neutralität isoliertes Land hätte sicher nichts zu lachen, wenn sie infolge eines Absprunges ihres östlichen Nachbarn nach Brüssel praktisch ganz auf sich allein gestellt und zudem total von der EWG „umschlossen” wäre. Es liegt daher auf der Hand, daß man in Bern dem Alleingang Österreichs mit ebensoviel Sorge entgegensieht, wie man sich anderseits hütet, ihn — der nur in tastenden Versuchen besteht — zu verurteilen, nachdem die österreichische Wirtschaft sich unbestreitbar von allen Wirtschaften der EFTA in der schwierigsten integrationspolitischen Situation befindet. Der „Sonderfall Österreich” wird in der Schweiz anerkannt und gewürdigt — aber daß man in Hel- vetien einer Lösung dieses Sonderfalles, welche die Eidgenossen zu den Düpierten der EFTA stempeln würde, mit Bange entgegensieht, wird ihnen der Nachbar nicht verübeln.

Ein Testfall

„Die Verhandlungen Österreichs mit der EWG”, so schrieb dieser Tage der frühere sozialistische Finanzminister und heutige Abgeordnete im Schweizer Nationalrat, Prof. Max Weber, „werden einen Testfall darstellen, der für uns (das heißt die Schweiz) von besonderem Interesse ist. Zwar wurde in Brüssel schon erklärt, der Fall Österreich werde kein Präjudiz für andere Integrationsgesuche sein. Dennoch wird man sehen können, wie die EWG-Kommission der Neutralität Rechnung trägt.”

Geographisch liegt Bern etwa auf halbem Weg zwischen Wien und Brüssel. Politisch liegt es viel näher bei Wien. Vielleicht ist es diesem Wien beschieden, die politische Distanz zwischen seinen bisherigen Partnern und Brüssel zu verkürzen.

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