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Bekehrte Schweiz?

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Jahrelang hat sich die Schweiz in der dankbaren Rolle gesehen, Lehren zu erteilen: De Gaulle war ihr zu „uneuropäisch“, den Engländern warf man vor, ihren Staat schlecht zu verwalten, und die Italiener waren sowieso abgeschrieben, schickten sie doch ihre Leute zur Arbeit in die Schweiz und wollten dann erst noch Bedingungen stellen. Nun aber beginnt sich das Blatt zu wenden. Erstens einmal ist das Symbol schweizerischer Stabilität und Solidität, der Schweizer Franken, noch mehr als andere Währungen ins Wanken geraten, zweitens hat auch der sehr seriöse Bundesrat in Bern Schwierigkeiten mit dem ausgeglichenen Budget, und drittens ist Europa nun nicht mehr ein Problem, das man von der schweizerischen Zuschauerloge aus beurteilen kann.

Bekanntlich hat die Schweiz in Brüssel ein Abkommen unterzeichnet, das die Erweiterung der bisherigen Freihandelszone der EFTA auf die EWG der Neun vorsieht. Noch während den Brüsseler Verhandlungen hatte der Bundesrat etwas voreilig versprochen, er werde nichts ohne die ausdrückliche Zustimmung des Volkes unternehmen, was also eine Volksabstimmung in Aussicht stellte. Das war zu einer Zeit, da die schweizerischen Unterhändler noch Höheres im Sinne hatten als nur eine Freihandelszone für Industriegüter. Man dachte dabei noch an einen halben Schritt in Richtung auf die europäische Gemeinschaft. Brüssel aber wollte entweder einen ganzen oder gar keinen Schritt, und so mußte die Schweiz sich mit dem Zollabkommen begnügen, hatte aber das bundesrätliche Versprechen eines Referendums bereits im Nacken, was nun um so unverständlicher war, als man seinerzeit, bei der Gründung der EFTA, das Volk ja auch nicht befragt hatte.

Die schweizerischen Unterhändler, allen voran Wirtschaf tsmimister Bundesrat Dr. Emst Brugger und Botschafter Paul Jolles, betätigen sich gegenwärtig als Wanderprediger, denn die Volksabstimmung ist auf den 3. Dezember anberaumt, Pauken und Trompeten werden eingesetzt, um nur ja aus der Schweiz kein zweites Norwegen werden zu lassen. Wie unruhig man im Bundeshaus ist oder mindestens bis vor kurzem war, wurde in dem eher ungewöhnlichen Beschluß deutlich, noch vor der Volksabstimmung eine wissenschaftliche diskrete Umfrage zu veranstalten, um zu erfahren, wie das Volk am 3. Dezember auf die offizielle Befragung reagieren werde. Das entsprechende Fachinstitut der Universität Zürich hat sich dieser Aufgabe angenommen, und mit einem kaum unterdrückten Seufzer der Erleichterung hat man in Bern das Resultat zur

Kenntnis genommen: 2000 stimmfähige Schweizer Bürger sind je eine Stunde lang befragt worden. Die Zahlen entsprechen dem, was für gewöhnlich wissenschaftlichen Studien zugrunde gelegt wird. Von diesen 2000 Bürgern und Bürgerinnen haben sich 59 Prozent für den in Brüssel unterzeichneten Vertrag ausgesprochen. Das ist ein Prozentsatz, wie er kaum erwartet werden durfte, um so mehr, als zusätzliche 19 Prozent sogar weitergehen möchten und einen direkten Eintritt der Schweiz in die Europäische Gemeinschaft begrüßen würden. Sie werden also bestimmt am 3. Dezember auch dem kleinen Schrittchen, der industriellen Freihandelszone, zustimmen. 12 Prozent hatten sich noch keine Meinung gebildet und nur 10 Prozent sprachen sich ausdrücklich gegen jede Annäherung an Europa aus.

Wenn man das positive Ergebnis analysiert, so kommt man allerdings auch zu einer eher bedenklichen Feststellung: vor allem wurde einmal mehr sichtbar, wie unterschiedlich die öffentlichen Meinungen der deutschsprachigen Schweizer und jene der Westschweiz oder des Tes-sin sind. Die französischsprachigen Welschen stimmten nämlich wesentlich mehr für Europa als die Deutschschweizer. Daß die junge Generation europafreundlicher ist, erstaunt wohl nicht, daß anderseits Leute mit höherer Bildung oder mit mehr politischem Interesse ebenfalls eher günstig gesinnt sind, mag beruhigen.

Auf die Frage, ob sie bei einer eventuellen Gründung des Vereinigten Europa bereit wären, einen Teil der schweizerischen Unabhängigkeit auf dem europäischen Altar zu opfern, sagten 54 Prozent entschieden nein. Nur 33 Prozent wären heute schon zu diesem Opfer bereit.

Das Universitätsinstitut warnte allerdings davor, diese Zahlen, die im Laufe einer in den Monaten Juni und Juli durchgeführten Umfrage errechnet wurden, ohne weiteres auf die Abstimmung vom 3. Dezember zu übertragen. Mit Recht verweist das Institut darauf, daß an der Abstimmungsurne auch andere Argumente hineinspielen können als bei einer zu Hause durchgeführten Befragung.

Ein meinungsbildendes Ereignis hat sich bereits eingestellt: die Pariser Gipfelkonferenz, die immerhin in einem beschränkten Umfang die Möglichkeit einer Vereinigung Europas angedeutet hat. Wie wird der Schweizer Bürger darauf reagieren? Dies bleibt eine offene Frage, denn es könnte eben so gut sein, daß er angesichts der näherrückesraden Realität sich zum Europäer aufschwingt, wie er davon auch erschreckt werden könnte.

Eine andere, ganz reale Gefahr aber schwebt über der schweizerischen Zukunft. Die eruropäischen Wanderprediger, die für ein Ja am 3. Dezember werben, unterstreichen allzu sehr, daß es ja wirklich nur um eine winzige Kleinigkeit gehe, nämlich darum, die frühere EFTA auf die EWG auszuweiten. Und immer wieder wird im Brustton der Uberzeugung versprochen, daß man selbstverständlich bei späteren Schritten in Richtung auf Europa zu das Volk wieder befragen werde. Diese Argumentation könnte sich in einen gefährlichen Bumerang verwandeln. Jedermann weiß ja, daß der in Brüssel unterzeichnete Vertrag eine sogenannte „Evolutiv-Klausel“ enthält, also die Möglichkeit offen läßt, das Arrangement später zu erweitern oder zu vertiefen. Gerade die Pariser Gipfelkonferenz hat bewiesen, daß die Dinge nun in Fluß geraten sind. Sollte sich die Schweiz später darauf versteifen, bei jedem halben Schritt wiederum eine Volksabstimmung durchführen zu wollen oder zu müssen, so würde einerseits das Volk selbst überfordert, anderseits aber — und das würde schwerer wiegen ■»-. könnte die Schweiz als Verhandlungspartner in Brüssel an Glaubwürdigkeit verlieren.

Hier scheint die französische Haltung Pompidous richtiger und verständlicher zu sein. Er hat ganz einfach sein Volk zur Beantwortung der Frage aufgerufen, ob es Pompidous Europa-Politik gutheiße oder nicht. Die Mehrheit des Ja war zwar nicht überwältigend, aber komfortabel genug, um Pompidou für weitere Schritte den Weg zu öffnen. Aber eben: in schweizerischen Augen jst Pompidou ein schlechter Europäer...

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