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Weg frei zum Sackbahnhof

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Mit scharfem Geschütz ist die schweizerische Regierung aufgefahren, nachdem in Brüssel der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft über die neue Situation, die weiß Gott nicht mehr neu ist, beratschlagt hat. Auf jeden Fall ist es außergewöhnlich, daß kein Geringerer als der schweizerische Volkswirtschaftsminister Bundesrat Ernst Brugger auf die Brüsseler Besprechungen offiziell geantwortet hat, obwohl es sich dabei um rein EWG-interne Gespräche gehandelt hat, über die die Schweiz nicht einmal offiziell orientiert worden war.

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Mit scharfem Geschütz ist die schweizerische Regierung aufgefahren, nachdem in Brüssel der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft über die neue Situation, die weiß Gott nicht mehr neu ist, beratschlagt hat. Auf jeden Fall ist es außergewöhnlich, daß kein Geringerer als der schweizerische Volkswirtschaftsminister Bundesrat Ernst Brugger auf die Brüsseler Besprechungen offiziell geantwortet hat, obwohl es sich dabei um rein EWG-interne Gespräche gehandelt hat, über die die Schweiz nicht einmal offiziell orientiert worden war.

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In der schweizerischen Presseerklärung, verfaßt von Bundesrat Brugger, hieß es denn auch vielsagend: „Aus der Tatsache, daß diese Sitzung (in Brüssel) stattgefunden hat, und aus den an die Öffentlichkeit gelangten Meldungen lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen: Der vorgesehene Fahrplan wird eingehalten, indem offensichtlich das Bestreben dahingeht, parallel zu den Beitrittsverhandlungen Verhandlungen mit den übrigen EFTA-Staa-ten aufziunehmen und Abkommen auszuhandeln, die gleichzieitig mit der Erweiterung der Europäischen Gemeinscäiaft in Kraft treten würden …"

Tatsächlich sind die schweizerischen Realpolitiker zufrieden. Sie haben nämlich als Optimum dieses Brüsseler Ergebnis erhofft und sind von Anfang an davon ausgegangen, daß das entscheddende Verhand lungsmandat keinesfalls jetzt schon, höchstens im September, vermutlich aber erst im Oldwiber erteilt werde. Die dritte Version hat sich als richtig erwiesen. Auch die Sitzung vom September wird nämlich, dessen sind auch die unbelehrbaren Optimisten sicher, nicht diese Entscheidung bringen, hingegen hofft man auf den Oktober.

Daß die erste akute Gefahr offensichtlich abgewendet ist, war für Bern Anlaß zur Genujgtuimg. Man hatte j’a eine Zeitlang in Brüssel davon gesprochen, nach dem Eintritt Englands in die EWG einfach die jetzige Freihandelszone um weitere zwei Jahre in Kraft zu belassen. Es bestand jedoch, so glaubte man wenigstens in Bern, das Risiko, durch diesen Entscheid den ganzen Problemkreis einfach auf die lange Bank zu schieben, worauf eine spätere Lösung sich wohl eher erschwe-

ren würde. Ntm also schlägt man von Brüssel aus eine zeitliche Parallelität mit der Statusänderung Englands vor und offeriert den Neutralen einen mdustrieUen Freihandel.

Diese Version entspricht übrigens genau dem, was der allmächtige Schweizer Handels- imd Industrieverein kürzlich in einer einläßlichen Studie vorgeschlagen hat Es heißt dort wörtlich in den Schlußfolgerungen: „Die Schaffung eines freien Marktes für Industrieprodukte innerhalb Westeuropas ist anzustreben; dasselbe gilt für gewisse Dienstleistungen wie zum Beispiel den Lizenzverkehr, die Tätigkeit der Versicherungen usw."

Natürlich macht man sich keine Illusionen über die Schwierigkeiten, die noch bevorstehen. Das offizielle Ministerrats-Kommunique aus Brüssel sagte dann ja auch offen, daß in Bezug auf den Handelsverkehr mit gewerblichen Erzieuignissen, die Einbeziehung eines Landwirtschaftsteils, die Harmonlsierunigsfragen, die Schutzklauseln und die Entwidc-liingsfähigkeit der Abkommen noch keine Entscheidung getroffen wurde, wenngleich „gewisse Fortschritte verzeichnet werden". In diesen Details aber steckt, wie der schweizerische Volkswirtschaftsmiinister Brugger sagte, „der Teufel", und die Über-einstiriimung im PrinzipieUen auch auf die konkreten Interessensphären ziu übertragen, ist außerordentlich scihwierig.

Nicht sehr ehrlich tönt das Bedauern jener, die sich darüber beschweren, daß die Neutnalen, also auch die Schweiz, von der „gestaltenden Mitwirkung" ausgeschlossen seien. Wer einem Verein beitritt, muß nun einmal dessen Statuten anerkennen, und es geht nidit an, daß der Mitgliedsfcandidat nach freiem Ermessen den Rahmen seiner Mitwirkung absteckt. Als Basis für die Regelung der Beziehungen zwischen den Neutralen und der EWG ist der Artikel 113 herangezogen worden, der für den Abschluß von Handelsverträgen konzipiert worden ist. In Bern hatte man gehofft, man werde sich auf den Beitrittsartikel 237 oder den Assoziationsartikel 238 stützen. Die Enttäuschung scheint aber ungerecht, denn schließlich war es ja Bern, das ausdrüciklich weder einen formellen Beitritt noch eine Assoziation anstrebte.

Offen bleibt jedoch in erster Linie die Frage, wie entwiddxmgsfähig dis jetzt ins Auge gefaßten Beziehungen sind. Im Augenblick ist es nodi unmöglich, sich darüber ein klares Bild zu machen. Feststeht vorläufig nur, daß das anvisierte Abkommen Zonencharakter haben wird, dessen Inhalt jedoch noch nicht fixiert ist. Wie die Vereinbarung auf kürzere oder längere Frist entwickelt werden kann, ist ebenfalls unklar. Sicher ist, daß von. hier aus nie direkt eine Vollmitgliedschaft erreicht werden kann. Mit dem Artikel 113 ist man auf einem anderen Geleise gelandet, zu dem allerdings die Weichen durch die Schweiz selbst gestellt worden sind.

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