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Jetzt heißt es Farbe bekennen

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Wenn nicht alles trügt, hat Premier Heath kürzlich in Paris Englands Weg in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft frei- gelächelt. Den vielen EWG-Gegnern in seiner Heimat ist daraufhin das Lachen vergangen. Aber Großbritanniens „Mr. Europa“ der ersten Stunde ist trotz seinem geschmeidigen Äußeren nicht leicht zu beirren; hat er ein Ziel für richtig erkannt, so bringt er einen heute selten gewordenen Mut auf: den Mut zur Unpopularität.

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Wenn nicht alles trügt, hat Premier Heath kürzlich in Paris Englands Weg in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft frei- gelächelt. Den vielen EWG-Gegnern in seiner Heimat ist daraufhin das Lachen vergangen. Aber Großbritanniens „Mr. Europa“ der ersten Stunde ist trotz seinem geschmeidigen Äußeren nicht leicht zu beirren; hat er ein Ziel für richtig erkannt, so bringt er einen heute selten gewordenen Mut auf: den Mut zur Unpopularität.

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Im Kielwasser der englischen Galeere werden aber auch die leichten Fregatten der Europäischen Freihandelszone in den Hafen des Gemeinsamen Marktes einlaufen können; die Vorbehalte der drei Neutralen werden kaum mehr ein unüberwindbares Hindernis bilden.

Die Zeit der unverbindlichen Absichtserklärungen ist nun vorbei. Österreich muß den Sprung in den Gemeinsamen Markt wagen; ausgerechnet Dr. Kreisky, der anfänglich nicht EWG-Freundliche, Spätbekehrte, wird es voraussichtlich sein, der seine Unterschrift unter Österreichs EWG-Vertrag setzt. Und das ist in gewisser Hinsicht gut so: Wenn auch in Sachen EWG von Anfang an die Fronten quer durch die Parteien gingen, die stärksten Widerstände waren (von nicht im Parlament vertretenen Gruppen abgesehen) im großen und ganzen doch bei den Sozialisten zu finden; sind sie nun selbst federführend, so heißt es, Farbe zu bekennen, die volle Verantwortung mitzutragen.

An sich aber herrscht in der EWG- Frage eine in Österreich schon selten gewordene Einmütigkeit zwischen den im Parlament vertretenen Parteien: sie werfen einander allenfalls mangelnde Ehrlichkeit des Bekenntnisses zum Gemeinsamen Markt oder Unfähigkeit bei den Verhandlungen vor, und was dergleichen Liebenswürdigkeiten mehr sind, doch die grundsätzliche Notwendigkeit eines EWG-Abkommens wird nicht in Frage gestellt. Ob freudig oder zähneknirschend, die Mehrheit der Österreicher hat sich (sehr im Gegensätze zu den Engländern und manchen Skandinaviern) zur Erkenntnis durchgerungen, daß wir um die Wirtschaftsgemeinschaft nicht herumkommen.

Die Entwicklung des zwischenstaatlichen Handels seit Inkrafttreten des EWG-Vertrages am 1. Jänner 1958 spricht eine deutliche Sprache. Daß Integrationsmaßnahmen, vor allem Zollsenkungen, auch noch so mächtige Handelsströme allmählich umzulenken vermögen, hat sich nur zu deutlich erwiesen. Hatten die EWG-Staaten 1958 erst 29,6 Prozent ihrer Einfuhr und 30 Prozent ihrer Ausfuhr untereinander abgewickelt, waren es 1970 schon 48,8 beziehungsweise 49 Prozent. Auffallend ist dabei, daß die großen Länder ihre Binnenmarktanteile einfuhrseitig stärker als ausfuhrseitig (oder zum mindesten gleich stark) steigerten, bei den Kleinstaaten hingegen die Ausfuhrzunahme deutlich das Übergewicht hatte.

Die EWG-Binneneirrfuhr etwa Deutschlands erhöhte sich von

25.8 Prozent 1958 auf 44,4 Prozent 1970, die Binnenausfuhr nur von 27,3 auf 40,2 Prozent. Dagegen steigerten die Niederlande ihre EWG- Einf uhranteile nur von 41,9 auf

55.9 Prozent, die Ausfuhranteile von

41.6 auf 62,0 Prozent; für Belgien- Luxemburg lauteten die entsprechenden Zahlen sogar: Einfuhr von

46.6 auf 58,8 Prozent, Ausfuhr von

45,1 auf 68,6 Prozent.

Die Befürchtung, daß in einer Wirtschaftsgemeinschaft die kleinen Staaten von den großen erdrückt würden, daß diese sie mit ihren Waren überschwemmen, wogegen die Kleinen mit ihren Lieferungen bei den Großen nicht durchdringen können, haben sich nicht bewahrheitet; genau das Gegenteil ist eingetroffen. Das erscheint auf den ersten Blick paradox, läßt sich aber sehr vernünftig erklären: die Unterlegenheit der Kleinen entsteht nicht durch etwaige Untüchtigkeit, sondern nicht zuletzt durch einen zu engen Inlandsmarkt, der oft keine Erzeugung in rentablen Losgrößen erlaubt; sobald für sie im Großraume Inlandsbedingungen herrschen, kann dieser Nachteil überwunden werden.

Dagegen hat sich für Österreich die Außenseiterstellung nicht gelohnt. Zwar war die EWG auch nach zwölf Jahren Gemeinsamen Marktes 1970 noch immer das bei weitem wichtigste Absatzgebiet Österreichs: Von der Gesamtausfuhr in Höhe von 74,27 Milliarden Schilling gingen nicht weniger als 29,27 Milliarden Schilling oder fast 40 Prozent in die Wirtschaftsgemeinschaft. Gegenüber 1957 hat jedoch der Anteil der EWG an der österreichischen Ausfuhr stark abgenommen, was nur deshalb nicht so auffiel, weil absolut die Lieferungen in diese Richtung im Zuge der stürmischen Gesamtausweitung der österreichischen Ausfuhr gleichfalls zugenommen haben.

Der Anteil der Wirtschaftsgemeinschaft an unserer Ausfuhr hat sich von 50 Prozent 1957 auf 40 Prozent 1970 verringert; die Außenzollmauern, die Österreichs Unternehmen gegenüber den Wettbewerbern innerhalb des Gemeinsamen Marktes zunehmend benachteiligen, haben sich ausgewirkt.

Dagegen erwiesen sich die Zölle des kleinen Österreich für die große EWG als kein wirksames Hindernis: deren Anteil an der österreichischen Einfuhr erhöhte sich (zusätzlich zu deren sprunghaftem absoluten Anstieg) von 52 Prozent " 1957 auf 57 Prozent 1970. Die Außenhandelsentwicklung Österreichs war also genau entgegengesetzt zu jener der Beneluxstaaten.

„Normative Kraft“ des Zollregimes

Man mag einwenden, Österreich sei trotzdem nicht schlecht gefahren, es sei auf die EWG nicht angewiesen gewesen und man wisse nicht, ob sie uns ebensogut bekommen hätte wie den Beneluxländern.

So viel ist gewiß, daß es vor allem die Mitgliedschaft bei der Europäischen Freihandeslzone war, die Österreich für die EWG-,,Verluste“ entschädigte. Auch hier bewährte sich wieder die „normative Kraft des Zollregimes“, die sogar über die Hürde der geographischen Entfernungen hinweg die österreichische Ausfuhr in die Zollabbauräume lenkte. Von 1957 bis 1970 verdoppelte sich der EFTA-Anteil an der österreichischen Ausfuhr von 12 auf 24 Prozent, die absolute Höhe der Lieferungen in dieses Wirtschaftsgebiet versechsfachte sich sogar.

Gerade dieser wichtige Ersatzmarkt ist es aber, der einem beiseitestehenden Österreich verlorengehen müßte: Bei der letzten Ratstagung der EFTA in Rejkavik wurde bereits deren Selbstauflösung bis 1973 beschlossen. Mögen auch die Termine nicht eingehalten werden, die Richtung ist festgelegt.

Schlösse sich Österreich nun nicht dem allgemeinen Aufbruch in die EWG an, so müßten früher oder später die gegenseitigen Zollsenkungen mit den bisherigen EFTA-Län- dern wieder rückgängig gemacht werden; Österreich würde sich eingr vergrößerten EWG gegenüber in einer Isolation sehen, die alles andere als „splendid“ wäre.

Unsere Handelspolitik steht also gewissermaßen unter Zugzwang; es ist keine Frage der Zu- und Abneigung, der freien Wahl zwischen verschiedenen mehr oder minder gleichwertigen Möglichkeiten. Stärker noch als für die anderen EFTA-Staaten würde für uns aus Gründen der geographischen Lage und der Wirtschaftsstruktur ein Fernbleiben vom künftigen größeren Gemeinsamen Markte den Verzicht auf eine weitere Steigerung des Lebensstandards, womöglich sogar eine

Senkung des derzeitigen bedeuten; es ist sehr zweifelhaft, ob die österreichische Bevölkerung bereit wäre, diesen Preis für eine trotzdem noch ziemlich platonische wirtschaftliche Unabhängigkeit zu zahlen, ob eine österreichische Regierung, wie immer sie zusammengesetzt wäre, eine solche Enthaltsamkeit auf die Dauer innenpolitisch durchstehen könnte.

Vorrang für Neutralitätspolitik

Dennoch müßte der Weg in die Vereinzelung angetreten werden, wenn wirklich gewichtige Gründe den wirtschaftlichen Überlegungen entgegenstünden. Bedingungslosen Vorrang hat die Neutralitätspolitik; jedes Nahverhältnis zur Wirtschaftsgemeinschaft hätte daher zu unterbleiben, wenn diese dadurch gefährdet würde.

Einer der Haupteinwände gegen ein EWG-Übereinkommen lautet, daß dadurch das Anschlußverbot an Deutschland, das im Staatsvertrage festgelegt ist, verletzt würde. Nun sollte man sich vor übereilten Gleichsetzungen hüten: die Bundesrepublik ist nicht das Deutsche Reich, und die Wirtschaftsgemeinschaft ist nicht die Bundesrepublik, die ihr nur als Gleiche unter Gleichen angehört;

die bisherige Mitgliedschaft der Beneluxstaaten und die angestrebte der Schweiz und der skandinavischen Länder, denen allesamt keine pan- germanische Neigung nachgesagt werden kann, widerlegen allein schon den Anschlußverdacht zur Genüge.

Das Anschlußverbot überdies gilt für einen zweiseitigen Zusammenschluß mit Deutschland, nicht für die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften, an denen unter anderem auch Deutschland teilnimmt. Die Richtigkeit dieser Auslegung beweist nicht zuletzt die unbeanstandete Zugehörigkeit Österreichs zur OECD beziehungsweise OEEC schon bei Abschluß des Staatsvertrages; auch an dieser war und ist die Bundesrepublik jederzeit beteiligt.

Keine Vollmitgliedschaft

Was die Neutralität selbst betrifft, so sind darauf die Schweiz und Schweden, die gleichfalls in den Gemeinsamen Markt streben, nicht minder bedacht. Eine Gleichsetzung zwischen EWG und NATO ist unberechtigt, nicht nur (was man als Formalismus ab tun könnte), weil der Vertrag von Rom keine militärischen Klauseln enthält, sondern vor allem weil die westlichen Länder, sehr im Gegensatz zu denen des Ostblocks, weder Neigung noch Geschick zeigen, die Wirtschaft als Werkzeug der Politik, geschweige denn der Strategie zu gebrauchen; sie waren bisher nicht einmal imstande, ihren Osthandel zu vereinheitlichen.

Eine Annäherung an den Ostblock, das kann mit voller Objektivität festgestellt werden, brächte zwangsläufig viel mehr politische Auflagen mit sich als eine solche an die EWG — ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, die eine Eingliederung eines marktwirtschaftlichen Landes in eine staatswirtschaftliche Gemeinschaft mit sich brächte.

Die über das Wirtschaftliche hinausgehenden politischen Absichten des Vertrages von Rom stießen schon bisher auf heftigen französischen Widerstand, dem sich auf Grund der Pariser Gespräche zwischen Pompidou und Heath anscheinend auch England anschließt; diesbezügliche Gewissensfragen Werden daher Österreich und den anderen Neutralen wohl nicht so bald gestellt werden. Zudem darf nicht vergessen werden, daß die Neutralen samt und sonders keine Vollmitgliedschaft bei der EWG anstreben (auch Schweden hat ursprüngliche Pläne in diese Richtung aufgegeben), sondern einen „Vertrag eigener Art“, wie immer dieser schließlich heißen mag.

Die Vorbehalte gelten vor allem der Unterwerfung unter Mehrheitsbeschlüsse (die im Vertrage von Rom nach einer gewissen Übergangszeit vorgesehen war, aber auf Grund franco-britischer Abneigung dagegen ohnehin nicht zustande zu kommen scheint), der Unkündbarkeit der Mitgliedschaft und dem Ausbau einer politischen Gemeinschaft. Die Neutralen wollen sich das Recht Vorbehalten, bei allfälligen mit der Neutralität vereinbarten Beschlüssen auszuscheren, bei Veränderung der weltpolitischen Lage aus der EWG auszutreten und keine politischen Hoheitsrechte an Brüsseler Gremien abzugeben.

Am einfachsten und unverdächtigsten wäre es, zweiseitige Zollsenkungen (selbstverständlich mit Einführung von Ursprungszeugnissen zwecks Absicherung gegen Drittländerwaren) zwischen der Wirtschaftsgemeinsachft und den

Neutralen zu vereinbaren. Dem steht freilich das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) entgegen, dem sämtliche der betroffenen Länder angehören, und das vorschreibt, daß zweiseitig ausgehandelte Zollerleichterungen auch allen übrigen Mitgliedstaaten ohne Gegenleistungen derselben zugute kommen müssen. Ausgenommen von dieser Vorschrift sind nur Wirtschaftsgemeinschaften wie etwa (um eine schon zur Zeit der Gründung des GATT bestehende anzuführen) das britische Commonwealth. Ein über bloße Zollsenkungen hinausgehender Vertrag mit der EWG ist daher unerläßlich, weil es sich weder deren Vollmitglieder noch die Neutralen leisten könnten, ihre Zölle automatisch auch gegenüber sämtlichen GATT- Staaten (also fast gegen die ganze Welt, wenn wir noch jene Staaten einbeziehen, denen GATT-Präferen- zen auch ohne Mitgliedschaft bei dieser gewährt wurden) abzuschaffen, ohne daß diese zur gleichen Leistung verpflichtet wären.

So gewissenhaft auch Österreich seine Neutralitätspolitik absichem mag, rhetorische Querschüsse aus dem Osten werden nie unterbleiben. Bei aller Rücksichtnahme auf dortige Empfindlichkeiten müssen wir uns klar sein, daß eine österreichische Neutralitätspolitik nur dann diesen Namen verdient, wenn sie auf dem Ballhausplatz und nicht im Kreml gemacht wird. Solange überdies die europäische Politik auf Entspannung geschaltet ist, wird (wiewohl uneingestandenermaßen) eine durch die Neutralen aufgeweichte EWG der Sowjetunion letztlich lieber sein als eine straff organisierte und eng der NATO verbundene. Auch und gerade innerhalb der EWG können die Neutralen ihrer Brückenfunktion gerecht werden.

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