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Sicherungen sind unerläßlich

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Die Verfasser des ÖVP-Vorschlages haben in ihr Projekt Sicherungen gegen Mißbräuche und gegen mögliche Überforderungen der Stimmberechtigten eingebaut, die im Licht der schweizerischen Erfahrungen positiv zu würdigen sind. Im schweizerischen System vermißt man manchmal derartige Bremsen. Das ÖVP-Projekt verhindert eine Majorisierung durch aktive Minderheiten und die Ausnützung einer flauen politischen Stimmung zu gruppenegoistischen Zwecken dadurch, daß es die Gültigkeit eines Volksbeschlusses davon abhängig macht, daß mehr als 50 Prozent der Stimmbürger an der Abstimmung teilnehmen. Diese an sich patente Lösung hat allerdings unter anderem auch ihre Tücken, auf die hier raumeshalber nicht näher eingegangen werden kann. \h zweite Sicherung kommt hinzu die sbligatorische Überprüfung der V e r-:assungsmäßigkeit durch den

Verfassungsgerichtshof vor der Volksabstimmung. Aus schweizerischer Sicht verdient diese Anregung unbedingte Zustimmung. Schließlich liegt in der strukturellen Beschränkung des Vorschlages auf ein bloß fakultatives Referendum eine gewisse Sicherung gegen eine Abstimmungsinflation schweizerischen Ausmaßes und damit gegen die Überforderung und Ermüdung des Abstimmungsbürgers. Der Vorschlag verzichtet ja auf das obligatorische Referendum, wie es in der Schweiz für alle verfassungsändernden Vorschläge und Beschlüsse verlangt ist, gehen sie nun vom Parlament oder von einer Volksinitiative aus. Das führt natürlich zu mancher Abstimmung, die sonst unterbliebe.

In der Schweiz kann aus föderalistischen Gründen das obligatorische Referendum nicht preisgegeben werden. In Österreich liegen die Verhältnisse in dieser Beziehung ganz anders; der Verzicht auf das obligatorische Referendum liegt hier auf der Hand. Er wird gewisse Schattenseiten des Schweizer Systems vermeiden lassen, namentlich eine gewisse Übersättigung mit Abstimmungen, wie man sie in der Schweiz konstatiert. Diese Übersättigung geht übrigens nicht nur auf das Konto des Bundes. Seit Bestehen des Bundesstaates von 1848 wurde die Stimmbürgerschaft vom Berner Bundeshaus bis zum heutigen Tag zweihundertmal zum Urnenentscheid aufgerufen, das heißt, im Durchschnitt pro Jahr etwas mehr als zweimal. Das kann, für sich allein genommen, nicht als Überfütterung bezeichnet werden. Es kommen jedoch eine weit größere Zahl von kommunalen und kantonalen Urnenabstimmungen dazu, da ja in der Schweiz die Referendumsdemokratie nicht nur auf der Bundesebene, sondern auch im Gemeinde- und Kantonsbereich funktioniert.

Die Schwierigkeit im schweizerischen System besteht darin, objektive und brauchbare Kriterien für die Einteilung von Problemen und Vorlagen nach dem Grade ihrer Wichtigkeit und staatspolitischen Tragweite aufzustellen. (Es ist anzunehmen, daß sich Österreich früher oder später vor eine ähnliche Sisyphusarbeit gestellt sähe.) Zudem würde die Bürgerschaft einer noch so wohlgemeinten und begründeten Entlastung des Stimmbürgers sehr wahrscheinlich opponieren, da die Schweizer sehr allergisch zu reagieren pflegen, sobald eine wirkliche oder vermeintliche Schmälerung ihrer Rechte diskutiert werden will. Wie weit im übrigen die in das ÖVP-Projekt eingebauten Sicherungen und Bremsen gegen Überforderungen und Mißbräuche der direkten Demokratie sich als wirksam erweisen, wird erst die Praxis lehren.

Man wird sich in der Volkspartei und in allen politischen Kreisen, welche sich mit ihrem Vorschlag auseinandersetzen, gewiß darüber im klaren sein, daß die Aktivierung der direkten Demokratie die A s s o z i i e-rkingsprobleme Österreichs nicht vereinfachen: In der Schweiz“ machte den Politikern und Behörden die Frage, ob und wie die Bewahrung der Volksrechte mit einer Assoziierung in Übereinklang gebracht werden könnte, entschieden mehr Sorge als das Neutralitätsproblem. Man wird das sicher auch in Wien wissen und sich keine Illusionen darüber machen, daß die Einführung der Referendumsdemokratie zusätzliche Probleme in dieser Hinsicht schafft, von denen eine kurzfristig disponierende Politik eher zurückschrecken müßte.

Wenn es aber gelingt, mit Brüssel auch punkto Referendumsdemokratie eine für beide Verhandlungspartner annehmbare Lösung auszuhandeln — und das wird eher gelingen, wenn Österreich und die Schweiz auch in diesem Belang eine weitgehend übereinstimmende Position einnehmen —, dann wird anderseits auch die integrationspolitische Situation der beiden, durch die direkte Demokratie noch enger sich verbunden fühlenden Nationen gestärkt werden. Nicht nur das! Vielmehr eröffnen sich auf diese Weise der Idee der direkten Demokratie selber neue Perspektiven und Chancen. Wenn diese sich in einem weiteren Volk und Staat im Herzen Europas durchsetzt und bewährt, dann darf man sich davon günstige Ausstrahlungen auf einintegriertesEuropa versprechen — und wäre es auch nur in dem Sinne, daß sie der Gefahr der angeblich „zwangsläufigen“ Zentralisierung und Bürokratisierung Europas entgegenwirkt.

Meine Ausführungen beziehen sich auf das Expertenprojekt, wie es die von der ÖVP bestellten Sachverständigen ausgearbeitet haben und wie es am 9. November in Wien bekanntgegeben worden ist. Inzwischen ist dieses Projekt überarbeitet worden, weicht doch der vom ÖVP-Presse-dienst in seiner Nummer vom 5. Dezember 1962 mitgeteilte Diskussionsvorschlag der Partei in wesentlichen Punkten davon ab. So fällt auf, daß in diesem Vorschlag vom Erfordernis einer mehr als 50prozentigen Stimmbeteiligung und von der Prüfung der Initiativen auf ihre Verfassungsmäßigkeit nicht mehr die Rede ist, was bedeutet, daß wichtige Bremsen des Expertenentwurfs gegen Mißbräuche fallen gelassen würden. Dafür ist anderseits die Zahl der für das Zustandekommen eines Volksbegehrens erforderlichen Unterschriften von 200.000 auf 500.000 erhöht worden. (Mit dem Argument, daß nur noch gut organisierte Massenorganisationen oder finanzkräftige Gruppen mit Aussicht auf Erfolg einen Volksauftrag lancieren könnten, wenn die Unterschriftenzahl hoch angesetzt würde, ist bisher in der Schweiz die oft diskutierte Frage einer Erhöhung der

Unterschriftenzahl immer wieder abgelehnt worden.) Neu ist sodann m. W. die Bestimmung, daß ein Volksauftrag die Form eines ausgearbeiteten Gesetzesentwurfs haben muß, also offenbar nicht mehr als allgemeine Anregung eingereicht werden kann. Da im Gegensatz zur Schweiz in Österreich die Volksinitiative nicht auf der Verfassungs-, sondern nur auf der Gesetzesstufe praktiziert werden soll, liegt eigentlich diese Modifizierung auf der Hand. Eine weitere Präzisierung geht dahin, daß ein ablehnender Beschluß des Bundesrates in der Frage, ob eine Volksabstimmung über ein Gesetz abgehalten werden soll, nur aufschiebende Wirkung hat, sofern der Nationalrat seinen entsprechenden früheren Beschluß nach dem Veto des Bundesrates bekräftigt. Ebenfalls neu ist, daß eine Mehrheit des Nationalrates über jeden Gesetzesentwurf eine Volksabstimmung verlangen kann und daß Gesetze, welche völkerrechtliche Verpflichtungen Österreichs oder eine dauernde Belastung der Gebietskörperschaften oder eine Abgabenbelastung der Bundesbürger oder die Veräußerung von Staatsgut betreffen, der Volksabstimmung in jedem Fall entzogen bleiben sollen.

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