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Volksabstimmung über EWG?

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Kaum hatte man die schweizerischen Parlamentarier finanziell etwas besser gestellt, wurde ihnen prompt zusätzliche Arbeit auferlegt. Früher mußten sie für ein Taggeld, das kaum die Spesen deckte, zu vier ordentlichen Sessionen antreten. Nun gewährt man ihnen zusätzlich ein gewisses Fixum, womit sie in eine Zwischenstufe zwischen Berufs- und Amateurparlamentarier erhoben wurden, aber jetzt verlangt man von ihnen auch, daß sie endlich einmal mit der liegengebliebenen Arbeit aufräumen. So sind sie nur zu einer außerordentlichen Session aufgeboten worden.

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Kaum hatte man die schweizerischen Parlamentarier finanziell etwas besser gestellt, wurde ihnen prompt zusätzliche Arbeit auferlegt. Früher mußten sie für ein Taggeld, das kaum die Spesen deckte, zu vier ordentlichen Sessionen antreten. Nun gewährt man ihnen zusätzlich ein gewisses Fixum, womit sie in eine Zwischenstufe zwischen Berufs- und Amateurparlamentarier erhoben wurden, aber jetzt verlangt man von ihnen auch, daß sie endlich einmal mit der liegengebliebenen Arbeit aufräumen. So sind sie nur zu einer außerordentlichen Session aufgeboten worden.

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Wie in allen Parlamenten der Welt sind auch in Bern die Couloirgespräche mindestens so wichtig wie die eigentlichen Verhandlungen. Eines der Hauptthemen in den Wandelgängen aber ist „Europa“, und ein sozialdemokratischer Abgeordneter kommentierte das französische Referendum teils resigniert, teils eifersüchtig: „Wie Pompidou sollte man es machen können, nämlich eine Frage stellen, die Einzelheiten ausweicht und die trotzdem die große Linie festhält. Aber nachher sollte es dann eben wirklich vorbei sein.“

Dieses Klagelied ist nur zu verständlich, denn die Schweiz ist im Begriff, in der Europaproblematik den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie läuft nämlich Gefahr, es so oder so falsch zu machen. Die Schwierigkeit ist akut geworden, seitdem die Bundesregierung versprochen hat, das Volk um seine Meinung zur EWG-Assoziierung zu befragen. Dieses Versprechen war gut gemeint, denn es wäre ja tatsächlich ein Widersinn, wenn das Volk, das sonst zu jeder Straßenverbreiterung mit dem Stimmzettel ja oder nein sagen muß, in dieser wichtigen Frage nicht mitreden dürfte.

Schlechtes Gewissen

Seitdem der Bundesrat dies versprochen hat, ist die Lage aber wesentlich komplizierter geworden, so daß sich seine Großzügigkeit in einen Bumerang verwandelt hat. Vor allem steht ja gegenwärtig nur noch eine erweiterte industrielle Freihandelszone zur Debatte. Da man aber seinerzeit bei der Schaffung der EFTA kein Referendum veranstaltete (für einen kündbaren Zollvertrag ist dies laut Verfassung ja nicht nötig!), fragt man sich, warum man eigentlich jetzt eine Volksabstimmung durchführen soll. Wenn aber die Regierung das gegebene Versprechen nicht einlöst, so würden selbstverständlich die Europagegner mit Fingern auf das angebliche „schlechte Gewissen“ hinweisen und behaupten, der Bundesrat wage ganz einfach die Volksabstimmung nicht.

Bereits melden sich aber auch gegenteilige Argumente zu Wort: Wenn die Regierung eine Volksbefragung ausschreibe, obwohl dies doch von der Verfassung gar nicht verlangt werde, so sei dies ein Beweis dafür, daß man in der Integration weiterzugehen beabsichtige als nur bis zur Freihandelszone. Und diese Gegner rufen denn das gefährliche Wort: „Wehret den Anfängen!“

Damit ist Bern erneut vor ein Dilemma gestellt. Wenn es nichts unternimmt, so riskiert es, daß sogar dieser recht bescheidene erste Schritt in Richtung erweiterte Freihandelszone aus einem Mißtrauen heraus torpediert würde. Unternehmen aber kann Bern nur eines: nämlich die Versicherung abgeben, daß es sich wirklich um nichts anderes als um die Freihandelszone handle. Dazu würde zweifellos die Mehrheit des Volkes „ja“ sagen, doch wäre dann die Evolutionsklausel, auf die die schweizerische Verhandlungsdelegation in Brüssel so großen Wert gelegt hat, zunichte gemacht, weil ja für jeden weiteren Schritt wiederum ein neues Referendum nötig würde.

Was das alles bedeutet, davon weiß man in Bern einige Liedchen zu singen. Das Frauenstimmrecht zum Beispiel mußte mehrere Anläufe nehmen, bis es durchkam, obwohl nicht nur die Regierung als Ganzes, sondern auch die Mehrheit des Parlamentes schon lange dafür waren. Der Beitritt zur UNO ist noch in weiter Ferne, obwohl Regierungsvertreter immer wieder bei dieser oder jener Gelegenheit den Willen bekunden, in diesem internationalen Forum auch politisch mitzuarbeiten, aber die öffentliche Meinung ist zweifellos noch nicht reif, um in einer Volksbefragung ein überzeugtes und mehrheitliches Ja zu erwirken. Und die konfessionellen Ausnahmeartikel in der Verfassung, die den Jesuiten die Lehrfreiheit versagen und die Klostergründungen verbieten, sind ein noch aktuelleres Beispiel. Eine Studienkommission des Bundesrates ist zum eindeutigen Entschluß gelangt, vor dem Volk die Aufhebung dieser auch der Charta der Menschenrechte zuwiderlaufenden Artikel zu beantragen, aber die entsprechende Volksabstimmung ist noch in weiter Ferne, weil man nicht wagt, sich vor aller Öffentlichkeit eine Blöße zu geben. Eine kürzlich von einer privaten Firma durchgeführte repräsentative Umfrage zeigte nämlich, daß die Mehrheit des Volkes sich gegen eine Aufhebung dieser Sonderbestimmungen aussprechen würde.

Wieviel mehr dann erst in der Europafrage, in der der einfache Bürger sich noch weniger auskennt! Die Teuerung, die Vergrößerung der Zahl der Fremdarbeiter, die Luftverpestung und die Gewässerverschmutzung und noch vieles andere würde und wird emotional in die Waagschale geworfen, wenn es gilt, Gegen-„Argumente“ zu finden. So sitzt die Regierung denn mit gebundenen Händen und hofft, daß die Europagespräche zügig verankommen. Aber doch nicht zu schnell, denn man braucht ja Zeit für die Aufklärung des eigenen Volkes!

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