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Auskunft beim Nachbarn

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Es ist wohl mehr als Zufall, daß in letzter Zeit nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen westeuropäischen Staaten der Ruf nach einer politischen Schiedsrichterrolle des Staatsvolkes laut wird. Fast zur gleichen Zeit, als in Wien die Österreichische Volkspartei ihre Initiative für eine Stärkung der direkten Demokratie der Öffentlichkeit bekannt machte, veranstaltete General de Gaulle in Frankreich eines seiner berühmten Plebiszite und ließen sich in Deutschland Stimmen vernehmen, welche anregten, über Streitfragen, die den normalen Lauf der Politik immer wieder hemmen, das wahlberechtigte Volk wegweisende Grundsatzentscheide treffen zu lassen. Wenig später erteilte der ehemalige englische Premier Attlee der britischen Regierung in einem an die „Times“ gerichteten Schreiben den Rat, eine Volksabstimmung über die Frage des Beitritts Großbritanniens zur EWG zu veranstalten.

Krise und Renaissance der direkten Demokratie

So verschieden die Beweggründe und Veranlassungen sein mögen, welche diese Vorstöße und Versuche ausgelöst haben, so erstaunlich ist jedenfalls für den schweizerischen Beobachter die grundsätzliche Wertschätzung der direkten Demokratie, das Vertrauen in den politischen Instinkt und das gesunde. Urteilsvermögen der Wählerschaft, wie sie hier zum Ausdruck gebracht werden. Und nicht minder erstaunlich kommt es dem Eidgenossen vor, wie rasch nun die Idee der direkten Demokratie Boden gewinnt, nachdem sie noch vor einem Jahrzehnt außerhalb der Schweiz kaum für mehr gehalten wurde als eine zwar achtenswerte, aber doch etwas ausgefallene helvetische Spezialität. Das schweizerische Staunen ist aber auch darum am Platze, weil die erwähnten Vorkommnisse und Tendenzen stark kontrastieren mit jenen schweizerischen, selbstkritischen Stimmen, die das Klagelied von der „Krise der Referendumsdemokratie“ singen . Diese Stimmen sind in der letzten Zeit lauter und zahlreicher geworden.

Echte oder opportune Demokratie?

Es ist hier nicht der Ort, darüber zu räsonieren, wieweit sich in Vorschlägen wie demjenigen Attlees Ansätze zu einer echten Referendumsdemokratie manifestieren, oder darzulegen, warum de G a u 11 e s „p 1 e-biszitäre Demokra tÄA^p mehr formal als real eine Referendumsdemokratie dar&llCWftdolf Ffchefthat 'S seiner Analyse des letzten französischen Plebiszites, in Nummer 46 der „Furche“, diesen Sachverhalt überzeugend nachgewiesen, so daß wir uns mit der Feststellung begnügen möchten: echte, direkte Demokratie kann ihrem Wesen nach nicht darin bestehen, daß derjenige, der nun die Macht in Händen hält, das Volk immer dann und nur dann zur Bestätigung seiner Politik an die Urnen ruft, wenn es ihm nützlich zu sein scheint. De Gaulies Plebiszite sind eher ein Mißbrauch als eine Bestätigung der direkten Demokratie. Er nutzt die Demokratie bei passender Gelegenheit zu seinen Zwecken aus, um sie hernach wieder in die Ecke zu stellen. Dabei läßt er der Stimmbürgerschaft keine freie Wahl, sondern er erpreßt sie, indem er ihr mit Desertion in den Schmollwinkel droht, falls sie ihm nicht zu Gefallen sein sollte. Es gehört zum Wesen einer direkten Demokratie, daß die Regierung das Risiko, von der Bürgerschaft in Sachfragen desavouiert zu werden, rückhaltlos auf sich nimmt. Sie läßt das Volk die Linie und Richtung der Politik auch in Sachfragen bestimmen und akzeptiert diese Richtlinie als bindenden Auftrag, ob er ihr paßt oder nicht. Ganz anders de Gaulle: er stellt die Stimmbürger vor ein Dilemma, vor eine Zwangslage, in der sie fast nicht anders können als ihm den Willen zu tun. Wenn — wie es einmal einer formuliert hat — in der Referendumsdemokratie das Volk König ist, dann umschreibt man des Generals Verhältnis zu seinem König am treffendster mit dem geflügelten Wort: „... unc der König absolut, wenn er meiner Willen tut.“

Im Gegensatz zu de Gaulles Präsidialdemokratie und in deutlichen Unterschied zu deutschen und engli sehen Vorstößen, welche die Demo kratie mehr als letztes und aus nahmsweises Mittel benutzet möchten, um in schwierigen Fraget den festgefahrenen Karren der Politil wieder flottzumachen, zielf der üings bekanntgewordene Vorstoß der Öster-

Vgl. unseren ersten Beitrag zum Pro blem der Referendumsdemokratie „Referen dum ohne Glorienschein“ inNr. 51/52, 196:

reichischen Volkspartei offenbar auf eine dauernde und konsequente Installierung der Referendumsdemokratie ab.

Im Licht der schweizerischen Erfahrungen

Da jede Demokrifie ihre eigene^, +M Vöikscharakter, in de« gesciikKtlichen Erfahrungen und in ihren besonderen Lage wurzelnden Lebensgesetze hat, würde eine direkte Demokratie „schweizerischer“ Art in Österreich wahrscheinlich bald ihr Gesicht ändern und auch andere Auswirkungen im Positiven wie im Negativen haben als in der Eidgenossenschaft. Abgesehen von diesem Gesichtspunkt, drängt sich aber für Österreich so oder so die Folgerung auf, nach Möglichkeit unbefriedigende Erfahrungen, welche die Schweizer mit ihrem System machen, zu vermeiden und die in der Eidgenossenschaft festzustellenden, ungünstigen Einwirkungen gewisser Zeiterscheinungen auf das Funktionieren der Referendumsdemokratie einzudämmen. Dieses Bestreben schimmert deutlich durch den Vorschlag der ÖVP hindurch. Der Schweizer, der ihn durchgeht, merkt ihm sogleich an, daß seine Autoren das helvetische Vorbild nicht nur in der Theorie gründlich studiert, sondern auch die Praxis, der Alltag des Systems aufmerksam beobachtet und die Stärken und Schwächer der eidgenössischen Lösung bei dei Ausarbeitung ihres Projektes sich voi Augen gehalten haben. Ein Blick auf die wichtigsten konkreten Anregungen des ÖVP-Projektes bestätigt dies. Kernpunkt des Projektes ist ein dem schweizerischen „Volksbegehren“ (Initiative) nachgebildeter sogenannter „V o I k s a u f-trag“. Um Anspruch auf parlamentarische Behandlung zu erhalten, muß er von 200.000 (Schweiz: 50.000) Stimmberechtigten unterschriftlich unterstützt werden. An Stelle der in ier Schweiz praktisch unbedeutenden Stande s-Initiative (Anregung einer Verfassungsänderung durch Antrag eines Kantons) ist vorgesehen, daß je die Hälfte der Stimmberechtigten dreier Bundesl ä. n der dem Nationalrat Vorlagen in Form einer allgemeinen Anregung oder eines ausgearbeiteten Gesetzentwurfs unter-sreiten können. Der Vorschlag der ÖVP würde also die in der Schweiz jüngst erneut abgelehnte Gesetze s-nitiative ermöglichen. Da die verfassungsrechtliche und staatspolitische Situation in Österreich wesentlich anders ist (und es auch nach Verwirklichung der ÖVP-Vorschläge bleiben wird) als in der Schweiz (die nur die Verfassung s-Initiative kennt), darf zur Beurteilung dieser Anregung nicht mit den schweizerischen Argumenten gegen die Gesetzesinitiative gefochten werden. — Was das Referendum betrifft, beschränkt sich der Vorschlag auf ein fakultatives Referendum, das sich vom schweizerischen stark unterscheidet; es soll die Möglichkeit geschaffen werden, für einen Gesetzesbeschluß die Volksabstimmung zu verlangen. Die Möglichkeit eines Referendumsappells an das Volk wird im ÖVP-Vorschlag nicht nur den Stimmberechtigten zugestanden, sondern auch je einem Drittel heider Kammern, was ebenso eine Neuerung gegenüber der schweizerischen Lösung darstellt wie die Bestimmung, daß ein solcher Appell an den Volksentscheid dann unternommen werden kann, wenn im Nationalrat über eine Gesetzesvorlage kein Beschluß zustande kommt. Diese Art des Referendums bietet also die Möglichkeit, gegen (fas Veto der r^njÄel'' ttn das {¥ol^fujpr|fcelrt»jraiS^w^Ä das schweizerifene Tleferendum gerade umgekehrt den Sinn hat, gegen Parlamentsvorlagen an das Veto des Volkes zu appellieren.

Dieser strukturelle Unterschied macht sehr klar verschiedenartige Ausgangspunkte und die andersgelagerten Motive der beiden Lösungen deutlich: In Österreich sind die Vorschläge zum Ausbau der direkten Demokratie aus der Notwendigkeit hervorgegangen, die gesetzgeberische Immobilität, wie sie durch die spitzen Kräfteverhältnisse in der Koalition verursacht ist, zu durchbrechen durch die Einschaltung eines wegweisenden Schiedsspruchs der Volksmehrheit. In der Schweiz dagegen muß die direkte Demokratie aus der Geschichte der Eidgenossen heraus gewürdigt werden. Veranlaßt wurde sie durch die Reaktion des Volkes auf den Obrigkeitsstaat, gegen den sich eine aus uralten, eingefleischten Freiheitsrechten schöpfende Volksbewegung bildete, welche Initiative und Referendum erzwang. Die direkte Demokratie ist in der Schweiz heute so tief verwurzelt, daß sie mit dem demokratischen Gedanken schlechthin identisch geworden ist.

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