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Der Attac-Mitbegründer und Demokratie-Aktivist widerspricht sieben Mythen, die als argumentative Front gegen die Direkte Demokratie aufgebaut wurden.

Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung wünschen die Schließung von Steueroasen – die Regierungen lassen sie weiter geöffnet. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung will keinen Anbau gentechnisch veränderter Agrarpflanzen – die EU-Kommission setzt sie durch. Die Bevölkerung will nicht überwacht werden – die Regierungen sammeln immer mehr Daten. Der großen Mehrheit der Bevölkerung ist die Einkommenskluft zu groß, die Regierungen schweigen. Die systemrelevanten Banken sollten in den Augen der Menschen zerschlagen werden. Die Regierungen retten sie mit Steuergeldern. Der US-Kongress wollte schon 1999 Finanzderivate regulieren – die Lobbys gewannen. Die Bevölkerung sehnt sich nach einem Friedensprojekt – ein Dutzend EU-Regierungen beschließt den Irak-Krieg.

Souverän kommt vom mittellateinischen „superanus“ und bedeutet „über allem stehend“. In der Demokratie steht der „demos“, die souveräne Bevölkerung, über Regierung und Parlament (die Auftragnehmerinnen und -nehmer des Souveräns) und über der Verfassung (die jederzeit geändert werden kann). Doch heute stellen sich Regierungen und Parlamente immer öfter über die Bevölkerung und machen, was ihresgleichen, den mächtigsten Medien oder ökonomischen Lobbygruppen gefällt. Der „Souverän“ schaut dabei durch die Finger. Politikverdrossenheit, Wahlmüdigkeit und sinkendes Vertrauen in die Demokratie sind die Folge.

Direkte Demokratie als Ergänzung zur repräsentativen könnte eine Antwort auf deren Krise sein: Wenn die Menschen das materielle Recht auf Mitbestimmung erhalten, dann wird ihr Interesse an der „res publica“ zunehmen. Es käme tendenziell zur Repolitisierung der Bevölkerung und zur Renaissance der Demokratie. Doch die Demokratiefrage zu stellen – wer entscheidet? – heißt, die Machtfrage zu stellen. Die Eliten haben deshalb vorsorglich eine breite argumentative Mauer gegen echte Volkssouveränität errichtet. Eine kleine Übersicht:

Mythos 1:

„Wir haben doch die repräsentative Demokratie.“

Der Trick ist alt: Wenn jemand nach Arbeitspausen oder Feiertagen ruft, kommt postwendend das Gegenargument: „Aber Arbeit ist doch nichts Schlechtes!“ Genauso wenig, wie Pausen und Feiertage die Arbeit infrage stellen, sondern diese vielmehr produktiver machen, will direkte Demokratie die repräsentative nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen. Das Parlament soll der zentrale Gesetzgeber bleiben, doch wenn es etwas beschließt, das dem Willen des Souveräns zuwiderläuft, muss dieser die Möglichkeit haben, seine Vertretung zu korrigieren. Oder wenn alle zum Parlament kandidierenden Parteien in ihrem Wahlmenü etwas vermissen lassen, das dem Souverän wichtig ist, soll dieser selbst das Gesetz initiieren können. Oder wenn das Wahlvolk zwar mehrheitlich eine bestimmte Regierung wählt, in einer spezifischen Sache aber etwas anderes will, dann soll es beides kriegen können: Die Lieblingsregierung und die Gesetze seiner Wahl. Entscheidend ist: Das letzte Wort muss beim Souverän liegen.

Mythos 2:

„Das Volk kann die Regierung ja abwählen.“

Im ungünstigsten Fall erst nach fünf Jahren. Regierungen machen unpopuläre Entscheidungen gerne rasch nach der Wahl, um mit nahendem Wahltermin immer mehr Zuckerl zu streuen. Bis dahin ist vieles vergessen, und oft läge es nicht einmal im Interesse der enttäuschten Wähler, eine Regierung, die vieles richtig macht, aufgrund einer groben Fehlentscheidung nicht mehr zu wählen. Parlamentswahlen sind generell „ineffizient“, weil nur zwischen dicken Bündeln aus Wahlversprechen gewählt werden kann, von denen kein einziges verbindlich garantiert ist. Direkte Demokratie erlaubt dem Souverän, einzelne Sachfragen herauszugreifen und selbst zu entscheiden. Die Demokratie wird um vieles effizienter und befriedigender, wenn das Volk zwischen den Wahlen nicht entmündigt und machtlos ist, sondern eigeninitiativ mitgestalten kann.

Mythos 3:

„Das Volk ist zu ungebildet.“

Grundsatzentscheidungen sind in der Regel ethische Entscheidungen, und hier sind alle Menschen ähnlich kompetent – unabhängig vom Bildungsgrad. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die gesellschaftlichen Eliten über ein überdurchschnittliches Maß an Herzensbildung verfügen. Und ein starker Intellekt garantiert für nichts. Österreich hat zwei Erfahrungen mit Volksabstimmungen: Zwentendorf und EU-Beitritt. Dort, wo Regierung und Volk unterschiedlicher Meinung waren, war der Souverän klüger, obwohl damals eines der schlagendsten Argumente war, dass die Bevölkerung die komplizierte Kerntechnik nicht „verstehe“. Dieses Problem hat sich in den letzten Jahren verschärft. Minister und Abgeordnete hören weniger auf integre Experten als auf Lobbyisten. Warum zogen 13 EU-Regierungen in den Irakkrieg? Das „Wissen“-Argument sticht nicht.

Mythos 4:

„Die Entscheidungen sind zu komplex.“

Dieses Argument wurde beim Vertrag von Lissabon geschaffen. Doch erstens waren es die Regierungen, die, anstatt eine kurze und verständliche Verfassung vorzulegen, ganz bewusst ein 500-Seiten-Monster schufen, um mit dem „Komplexitäts-Argument die Souveräne von der Mitbestimmung ausschließen zu können. Zweitens zeigten Befragungen, dass auch die meisten Volksvertreter in den nationalen Parlamenten nicht den blassesten Dunst vom Inhalt des Lissabonvertrages hatten (und haben) und deshalb um nichts qualifizierter waren als die Bevölkerung. Das Beispiel Frankreich lehrt vielmehr, dass eine Volksabstimmung zu hohem Informationsstand in der Bevölkerung führt: Bücher über den EU-Verfassungsvertrag waren monatelang auf den Bestsellerlisten.

Mythos 5:

„Dann kommen die Populisten.“

Das ist keine Besonderheit der direkten Demokratie. Populisten kandidieren auch bei Parlamentswahlen, mitunter so erfolgreich, dass sie in die Regierung kommen. Wäre das nicht ein schlagendes Argument gegen repräsentative Demokratie? Um des – schädlichen – Populismus Herr zu werden, braucht es anderer Wege als die Ablehnung direkter Demokratie.

Mythos 6:

„Die Kronenzeitung würde zur eigentlichen Regierung.“

Das Totschlagargument in Österreich. Das ist jedoch kein Argument gegen direkte Demokratie weltweit, sondern für ein österreichisches Mediengesetz, das Machtkonzentration verhindert. Und hat die Krone keinen entscheidenden Einfluss auf die repräsentative Demokratie? Auch hier gilt: Nicht die repräsentative Demokratie gehört deshalb beseitigt, sondern die Macht dieser Zeitung.

Mythos 7:

„Dann kommt ja die Todesstrafe.“

Das ultimative Totschlagargument gegen direkte Demokratie. Doch wer fürchtet, dass über einen demokratischen Weg die Menschenrechte ausgehebelt werden, müsste gegen jedes demokratische Verfahren sein, also auch gegen repräsentative Demokratie. Denn wer bewahrt uns davor, dass eine gewählte Regierung die Todesstrafe oder Folter einführt? Wenn, dann bewahrt uns davor die Verfassung oder die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Konsequenz ist, dass diese letzten Hüter der Grundrechte auch für die direkte Demokratie gelten müssen – gleich wie für die repräsentative. Die Schweiz hat die Todesstrafe übrigens per direkter Demokratie abgeschafft.

Die direkte Demokratie ist nur ein Mittel, die Demokratie als Ausdruck der Gleichheit aller Menschen der Zweck. Und das Mittel darf niemals den Zweck abschaffen. Alle zeitgemäßen Initiativen für direkte Demokratie fordern deshalb, dass weder die Demokratie selbst noch schon erstrittene Grund-, Menschen- und Minderheitenrechte durch direkte Demokratie infrage gestellt werden dürfen (genauso wenig wie durch repräsentative). Entweder die Grundrechte gelten für alle, oder sie gelten nicht, dann ist es aber keine Demokratie mehr – weil die Menschen nicht mehr gleich sind, womit sich jedes demokratische Verfahren erübrigt. Wir sind beim Schweizer Minarett-Problem: Die direkte Demokratie gibt es in der Schweiz seit 1848, der Beitritt zur EMRK, gegen die das Minarettverbot verstößt, erfolgte 1974. Die Schweizer müssen also klären, ob ihnen der Verbleib in der EMRK wichtiger ist oder die Beibehaltung des fragwürdigen Rechts, via direkte Demokratie auch Menschen- oder Minderheitenrechte zu beschneiden (siehe dazu auch Seite 24). Ich bin sicher, diese Entscheidung würde zugunsten der Menschenrechte ausgehen.

In einer Gesamtschau gibt es zahllose Beispiele, dass der Souverän, wo er selbst entscheiden durfte, „klüger“ war als die Regierung. Die weltbeste Eisenbahn in der Schweiz, Österreichs EU-Mitgliedschaft, Italiens Atomausstieg, die Entscheidung des Kantons Zürich, reichen Ausländern die Steuerprivilegien zu streichen … – alles Verdienste direkter Demokratie.

Diese ist in Zeiten der Vereinnahmung der Regierungen durch die ökonomischen Eliten („Postdemokratie“) ein Gebot der Stunde. Dem absolutistisch regierenden Ludwig XIV. wird der Ausspruch zugeschrieben: „Der Staat bin ich!“ Heute vermeinen Regierungen und Parlamente immer öfter: „Der Souverän sind wir.“ Wenn Regierung und Parlament wissen, dass das letzte Wort beim Souverän ist, dann werden sie diesen in Zukunft ernster nehmen. Und die souveränen Bürgerinnen und Bürger können ihre Politikverdrossenheit und Ohnmacht in demokratische Initiative umwandeln.

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