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Kein Beinbruch

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Man könnte meinen, Englands Bürger zwischen Edinburgh und Dover hätten die letzte Woche an den Rundfunk- und Fernsehgeräten verbracht, um die neueste Nachricht über die Verhandlungen ihrer Regierung mit der EWG zu erfahren — Verhandlungen, die den „Union Jack” nach einigen Jahrhunderten in Richtung zum Kontinent flattern lassen könnten. Doch England bewegte etwas ganz anderes: das größte angelsächsische Pop-Idol nach den Beatles, die Ursache schlafloser Nächte weiblicher Jungbritinnen, der „Rolling Stone” Mick Jagger, hat diese Woche geheiratet.

In der Tat ist das mehr als ein Zufall: es ist ein Symptom für die weitverbreitete Stimmung in England, das Feilschen mit den europäischen Sechs nur noch mit äußerster Gelassenheit zu verfolgen; zu oft entpuppten sich englische Träume als französische Schäume: schon 1962, nach dem verhängnisvollen Treffen zwischen de Gaulle und Macmillan, als das erste französische Veto erging, dann wieder 1967, als auch Wilson bei dem Lothringer keine Sinnesänderung erzwingen konnte. Diese bösen Erinnerungen drängen sich neuerlich auf, wenn ein anderer Briten-Premiier, Edward Heath, diese Woche einen anderen Franzosen- Präsidenten, Georges Pompidou, in Paris trifft.

Man müßte nach den letzten Verhandlungen in Brüssel hoffen dürfen, daß diese Gespräche nun anders laufen als 1962 und 1967. Und das liegt erstmals vor allem an Frankreich.

Im Frankreich des Georges Pompidou zerbrechen immer mehr Pfeiler aus Gloire und konservativer Stabilität eines Systems. Und während die Blumen am Grab in Colombey-les- des-Eglises noch nicht verwelkt sind, hat eine internationale Währungskrise klargemacht, wie sehr die De-facto-Integration aller europäischen Staaten auch ohne gemeinsame Währungsunion der EWG schon fortgeschritten ist; und wie wenig ein einsames Frankreich auf D-Mark und Dollar tatsächlich einwirken kann. Zum andern ist aber auch seit dem einseitigen Handstreich der algerischen Regierung gegen die Ölverträge mit Frankreich in Paris klargeworden, wie bröcklig dag Fundament der franco-arabischen Allianz im westlichen Mittelmeer ist, auf das de Gaulle so viel gebaut hat.

Angesichts dieses belastenden Erbes muß Pompidou nun nicht allein die alten Ultras in der Gaullistenpartei berücksichtigen, die nach wie vor die Warnungen des toten Generals gegen das perfide Albion rezitieren, sondern kann auch auf die öffentliche Meinung in Frankreich, zählen, die für etwas ganz anderes ist: für einen Eintritt Englands in die EWG nämlich. Und ganz am Horizont mag Pompidou bei dieser Entscheidung deshalb auch an seine Wiederwahl 1976 denken, die gerade dann erfolgt, wenn Englands Mitgliedschaft voll wirksam und spürbar geworden ist; 64 Prozent der Franzosen sind jedenfalls für Englands Eintritt in die EWG.

Aber nur 19 Prozent der Briten haben den gleichen Wunsch. So kommt Premierminister Heath nicht eben mit leichtem Gepäck nach Paris. Der ihm nahestehende „Daily Express” hetzt seit Wochen gegen die Europapolitik der Regierung, sein einflußreicher konservativer Parteifreund Enoch Powell führt eine Kampagne gegen den EWG-Beitritt,

und die Labour-Opposition ist in sich gespalten. Und Harold Wilson warnt vor „unannehmbaren Bedingungen”. Einem BBC-Reporterteam sagte er unverblümt die Meinung vieler Engländer: „Man tritt auch nicht einem Sportklub bei, wenn man sich als Eintrittsgefoühr zunächst einmal dias Bein brechen muß…”

In England ist zwar die Industrie für die EWG, alber schon die Gewerkschaften zieren sich. Die Commonwealth-Partner machen ihrem Unbehagen hinter vorgehaltenem Handrücken Luft, einige von ihnen sitzen sogar indirekt mit am Verhandlungstisch in Brüssel. Neuseeland etwa, dessen Butter- und Käseexparte nach Großbritannien lebenswichtig sind und dessen Anliegen Englands Qhefvarbandler, Buropaminister Rippon, auch bislang konsequent vertrat. Aber selbst Neuseelands Premier, Sir Keith Hodyoake, konnte van Pompidou kein Zugeständnis erhalten — selbst, als er dem Präsidenten in Paris kürzlich Auge in Auge gegenübersaß.

Soll Europas Einigung aber — und hinter England steht eine halbe Mannschaft beitrittswiilliger oder assoziierungsbereiter EFTA-Staaten — tatsächlich an neuseeländischer Butter scheitern? Noch in der letzten Minute? Die Fragestellung allein hört sich wie ein Treppenwitz in einer reaktionären Geschicbtsstunde an.

Denn im Grundsatz darf man tatsächlich zwischen London und Paris Übereinstimmung erwarten: Dieses erweiterte EWG-Europa kann, gerade weil aus einem Dualismus ein Trialismus werden würde, kein homogener zentralistischer Bürokratenstaat ohne innere Grenzen sein; „graduelles Zusammenwachsen” ist es, was im Prinzip zwischen London und Paris angestrebt wird, was Bonn hinneihmen muß (und was die Kleinen rundum, die sowieso nicht ganz ohne Ängste sind, am liebsten wollen).

Sollte also die Währungskrise der letzten Wochen tatsächlich die Weichen in eine ganz neuartige Dimension in Nachkriegseuropa gestellt haben, dann mag der Anlaß nicht der schlechteste gewesen sein. Denn diese letzten Wochen haben neuerlich bestätigt, was Englands Außenminister Douiglias-Home feststellte: „Europa würde es ohne Großbritannien viel schwieriger haben, mit den Problemen der Zukunft fertig zu werden, als mit Großbritannien.” Tatsächlich, auch im Brüssler EWG- Basar sollte diese Tatsache im wahren Stellenwert angeschrieben werden.

Eine Erweiterung der EWG muß aber auch schließlich bedeuten, daß die Gemeinschaft ein noch breiteres Daoh erhält, unter dem die europäischen Mieter eine ganze Reihe von politischen Intentionen und Leitbildern vertreten können. Da sind die Ostpolitik und die spieziellen Anliegen Deutschlands für Berlin, da ist Italien mit seiner geopoliti- schen Intdressenslage im Mittelmeerraum, da käme England mit seinem Sanderverhältnis zu Commonwealth und den USA. Platz also auch für Neutrale, die sich ihre Außenpolitik nicht von Brüssel aufdiktieren lassen können?

Jedenfalls hat der französische Vorstoß im Anschluß an die Währungsdebatte, auch im EWG-Ministerrat bald über die neutralen Gesprächspartner zu reden, klargemacht, daß die Brise aus Paris nicht nur für einen Segler bläst.

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