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Am Ende eines langen Marsches

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In der Weltwirtschaft wird meist heftig gepokert; Österreich begnügt sich mit dem Schwarzer-Peter-Spiel. Das mag ungefährlicher sein, aber peinlich ist es doch, wenn man die inkriminierte Karte in der Hand behält. Es geht um das Zustandekommen eines Interimsabkommens mit der EWG ab 1. Jänner 1972. Die Zeit ist knapp und ist durch den Streik der EWG-Beamten noch knapper geworden, aber niemand will schuld sein, wenn, die Vereinbarung mißlingt.

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In der Weltwirtschaft wird meist heftig gepokert; Österreich begnügt sich mit dem Schwarzer-Peter-Spiel. Das mag ungefährlicher sein, aber peinlich ist es doch, wenn man die inkriminierte Karte in der Hand behält. Es geht um das Zustandekommen eines Interimsabkommens mit der EWG ab 1. Jänner 1972. Die Zeit ist knapp und ist durch den Streik der EWG-Beamten noch knapper geworden, aber niemand will schuld sein, wenn, die Vereinbarung mißlingt.

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Freilich kommt Brüssel der Zeitdruck nicht ganz ungelegen: Die Kommission muß dadurch nur ein Konzept vorlegen, und Österreich kann bloß akzeptieren oder den Schwarzen Peter in der Hand behalten. Zeit zum Verhandeln gibt es nicht mehr.

Daher fragt sich, wie wichtig ein solches Interimsabkommen ist. Über eine definitive Regelung wird nämlich auf alle Fälle verhandelt; sie ist unabhängig davon, aber nicht unberührt. Ob sich eine Interimslösung positiv oder negativ für Österreich auswirken wird, darüber gehen die Meinungen auseinander.

So viel bisher bekannt ist, hat das sich abzeichnende EWG-Angebot für ein Interimsabkommen viele Schönheitsfehler: eine sehr umfangreiche Ausschlußliste für bestimmte Waren und Warengruppen, eine Regelung für Ursprungserzeugnisse, die gar nicht nach dem Geschmack Österreichs ist, und anderes mehr. Ist es gut, sich darauf einzulassen?

Ja, lautet die eine Antwort. Schließlich handle es sich nur um ein Provisorium; in den definitiven Abmachungen könne noch alles korri- gert werden. Hauptsache, wir haben einen Fuß in der Türe des Gemeinsamen Marktes; es verhandle sich künftig leichter, wenn man den Spatz schon in der Hand halte und nicht alle Karten auf die Taube auf dem Dach setze. Im übrigen komme der Global vertrag bestimmt; er komme sogar sehr bald: spätestens im Februar soll er ausgehandelt werden.

Nichts sei dauerhafter als ein Provisorium, lautet das Gegenargument. Darin habe Österreich Erfahrung, aber auch anderen ergehe es nicht besser; gerade die EWG könne ein Lied davon singen. Habe man erst einmal gewisse Konzepte und Prozeduren akzeptiert, dann sei es schwer,

sie wieder loszuwerden — insbesondere wenn man es mit einem so schwerfälligem Apparat wie dem der EWG zu tun habe, der ständig divergierende Meinungen und Aspirationen notdürftig koordinieren müsse und dauernd von irgendeinem Lande oder einer Gruppe blockiert werde.

Ein Interimsabkommen präjudi- ziere zweifellos die Totallösung. Wenn diese ohnehin bevorstehe, so könne man erst recht abwarten. Österreich antichambriere nun bald 15 Jahre in Brüssel; auf ein paar Monate früher oder später werde es da auch nicht mehr ankommen. Der Fuß in der Tür sei gut, aber seien wir denn so sicher, daß es nicht die falsche Türe ist? Es seien jene nicht die schlechtesten Europäer, die überstürzten Beschlüssen skeptisch gegenüberstünden.

So steht Meinung gegen Meinung: die derzeitige österreichische Regierung, noch stärker als alle ihre Vorgängerinnen auf optische Erfolge bedacht, neigt einem Interimsabkommen um jeden Preis zu; die Wirtschaft ist eher mißtrauisch, sie möchte Präjudizien lieber vermeiden. Auch in EWG-Ländern — oft auch noch aus entgegengesetzten Gründen — sind die Meinungen in Sachen Interimsabkommen geteilt.

Wie immer wir aber zu dieser Frage stehen, es handelt sich dabei Gott sei Dank schon um technische Details: der prinzipielle Durchbruch ist seit der historischen Entscheidung für Großbritanniens EWG-Einbruch gelungen. Alle anderen Staaten, nicht zuletzt die Neutralen, segeln im Kielwasser der Engländer mit.

Seit dem Britendurchbruch haben auch die Franzosen ihre prinzipiellen Einwände gegen eine Erweiterung des Gemeinsamen Marktes fallen gelassen; seit neuerdings die Amerikaner wieder vehement gegen die Auf-

nähme der Neutralen, in die EWG aufgetreten sind, genießen letztere in Frankreich, das sich seit langem im Widerspruch gegen die westliche Hegemonialmacht gefällt, die höchsten Sympathien — was freilich nie so weit gehen wird, daß Frankreich ihnen etwas von seinen eigenen Interessen opfert.

Mit den übrigen EWG-Staaten bestehen — soweit es Österreich selbst betrifft — kaum Interessenskollisionen. Querschüsse aus Moskau sind, von routinemäßigen Verbalinjurien abgesehen, am Vorabend einer europäischen Sicherheitskonferenz nicht zu befürchten; diese böte sogar eine günstige Gelegenheit, die Kompatibilität von Neutralität und Gemeinsamem Markt festzuschreiben.

Böte. Der Konjunktiv muß beachtet werden. Es hängt nämlich davon ab, daß bis dahin die Verträge mit allen Interessenten für die eine oder die andere Lösung unter Dach und Fach sein werden.

Die Zeit drängt; es ist nicht leicht, nun in wenigen Monaten die über eine Dekade verschleppten Probleme zu lösen, die speziellen Anliegen von Norwegen bis Österreich, von Portugal bis Schweden und womöglich bis Finnland unter einen Hut zu bringen, die Balance zwischen pauschalen Regelungen und speziellen Anliegen herzustellen.

Und der Termin für eine Sicherheitskonferenz wird wahrscheinlich früher festgelegt werden müssen, als es den Westeuropäern, die vorher noch ihre internen Angelegenheiten zu regeln hätten, recht sein kann. Die willkommene Atempause, die ihnen die Vorschaltung einer Regelung der deutschen Frage gewährt hat, wird durch die unangebrachte Hast beim Verhandlungstempo der Regierung Brandt fühlbar verkürzt.

Westeuropa steht daher unter massivem Zeitdruck. Das Jahr 1972 wird somit aller Wahrscheinlichkeit nach das EWG-Schicksal Österreichs entscheiden. Wie freilich das Fazit unseres „langen Marsches“ in den Gemeinsamen Markt aussehen wird, wie viele österreichische Wünsche erfüllt werden und wie es vor allem um den neuralgischen Punkt des ganzen Abkommens — die Einbeziehung der Landwirtschaft in den Vertrag und die Behandlung von Fertigwaren auf agrarischer Basis — bestellt ist, das läßt sich vorläufig noch nicht sagen.

In dieser größeren Perspektive schrumpft die Bedeutung des Interimsabkommen etwas zusammen, wenngleich es andererseits die Zukunft Österreichs bedenklich präju- dizieren könnte. Den Weichenstellern in Brüssel ist daher Vorsicht und Weitblick zu empfehlen.

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