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Ein Volk sucht seine Sprache

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Dem Reisenden, der mit dem Schiff von England nach Irland, etwa von Hollyhead nach Kingstown und Dublin gekommen ist, fällt beim Verlassen des Schiffes und bei der Zollrevision auf, daß alle Aufschriften und Kundmachungen zunächst in unlesbaren Lettern und dann erst in englischer Sprache abgefaßt sind. Vom Hafen fährt man nur wenige Kilometer nach Dublin hinein — und wieder zeigt die erste in Irland gelöste Fahrkarte diese eigenartigen Lettern, die etwas an die griechischen Buchstaben erinnern, ohne daß eine englische Übersetzung den Sinn vermittelt. Der Fremde erfaßt ohne Schwierigkeit, daß es sich um die irische Schrift und Sprache handeln müsse. Er wird aber vergebens auf der Straße, in der Bahn oder in einem Hotel von Dublin eine andere Sprache vernehmen als das von den Iren so charakteristisch gesprochene Englisch. Selbst wenn der Ministerpräsident De Valera eine Rede an sein Volk hält, spricht er wohl zuerst in irischer Sprache, fügt aber sofort die englische Übersetzung dazu. Die Briefmarken, Post- und Staatsämter tragen ausschließlich Aufschriften in irischer Schrift. Die Engländer, die nach Irland kommen, haben viel darüber gespottet und sind auch vielfach darüber verärgert, weil sie dies als eine feindliche Geste gegen ihre Muttersprache empfinden.

Vor etwa hundert Jahren hat man im ganzen Lande noch das Irische gesprochen. Mit dem Gälischen (gesprochen in Irland und zum Teil in Schottland) und dem „Welsh” (gesprochen in Wales und in der Bretagne) bildet es die indogermanische Sprachgruppe des Keltischen. Heute sind es nur mehr die landschaftlich schönen, aber wirtschaftlich armen Gebiete im Westen und Südwesten von Irland, in denen das Irische (the „Irish” oder „Gaelic”) noch als Mutterspradie gesprochen wird. Die Zahl der „native speakers” wird auf rund 100.000 geschätzt. Im übrigen Lande ist das Irische von den Engländern im Laufe der Zeit durch die Sprachpolitik im Schulwesen aufgesaugt worden. So befindet sich Irland in der eigenartigen Lage, seine Muttersprache praktisch verloren zu haben. In dem jahrhundertelangen erbitterten Ringen um die Unabhängigkeit hat das irische Volk Wohl die Muttersprache, nicht aber sein Nationalgefühl und seine Religion verloren. Das irische Nationalgefühl, sein Nationalstolz und die katholische Religion sind durch die lange Zeit des national-religiösen Kampfes tief im Volke verwurzelt, und beide werden für immer ein charakteristisches und unverlierbares Erbe der grünen Insel bleiben.

Seitdem nun Irland in den blutigen Revolutionen und Kämpfen des Jahres 1916 bis 1922 die völlige’nationale Unabhängigkeit von England erreicht und damit die Forderungen der Sinn-Fein-Bewegung im wesentlichen verwirklicht hat, ist es auch mit großer Begeisterung darangegangen, die in Verlust geratene Mutterspradie wieder zur Volks- spradie zu machen. Es sind jetzt mehr als zwanzig Jahre her, daß der irische Freistaat dies auf dem Wege über die Schule anstrebt. In allen Volksschulen — mit Ausnahme der westlichen Bezirke, wo das Irische noch Mutterspradie ist — wird neben englischer Unterrichtssprache das Irische den Kindern beigebracht. Eine Schwierigkeit besteht dabei darin, daß der Großteil der Lehrkräfte das Irische nicht als Muttersprache spricht, sondern erst später gelernt hat und darum nicht volle Sicherheit im Akzent und Ausdruck hat. Diesen Nachteil sucht man einerseits dadurch zu beheben, daß man möglichst viele aus den noch irisch sprechenden Gebieten (Gaelic districts) zum Lehrberuf der Volksschulen bringt, und andererseits versucht man, die Lehrerseminare wieder ausschließlich in diese Gebiete zu verlegen, damit die jungen Lehramtskandidaten und -kandidatinnen während ihrer Studienzeit die alte Sprache nicht nur aus Büchern, sondern auch aus dem lebendigen Umgang lernen können. Ebenso gehört in allen Mittelschulen das Studium der irischen und der keltischen Literaturgeschichte zu den bevorzugten Gegenständen.

Während meines Aufenthaltes in Irland hatte ich Gelegenheit, dem Unterricht in einer Landvolksschule mit einem zweiklas- sigen Abteilungsuntyricht beizuwohnen. Ich stellte dabei mit Erstaunen fest, daß die Kinder des ersten Schuljahres bereits der irischen Konversation folgten und imstande waren, einfache AnfWorten zu geben. Vom vierten Schuljahr aufwärts mußten die Kinder dieser Volksschule bereits irische Lesestücke lesen und frei nacherzählen. Am Schlüsse des Nachmittagsunterrichtes wurden Bücher für die Heimlektüre in englischer und irischer Sprache ausgeteilt. Die Kinder konnten sich selbst englische oder irische Bücher wählen, und ihre Wahl bevorzugte — soweit ich es beobachtete — weder das eine noch das andere. Einige Kinder, die ich fragte, ob sie nicht englische Bücher lieber lesen als irische, gaben mir zur Antwort, es sei ihnen im Grunde gleich, in welcher Sprache die Bücher geschrieben seien.

Die große Frage, die heute viele Irländer beschäftigt, ist die, ob es auf diesem Wege gelingen wird, die verlorene Sprache wieder in den lebendigen Besitz zurückzuholen. Die Ansichten sind geteilt. Die größte Schwierigkeit ist folgende: Wenn die Kinder die Volksschule verlassen, haben sie praktisch keine Gelegenheit mehr, das in der Schule erworbene irische Sprachwissen weiter zu üben, denn in der Familie, auf der Straße und in der Öffentlichkeit wird fast ausschließlich englisch gesprochen. Die großen Tageszeitungen sind englisch, während die irisch geschriebenen Zeitungen und Zeitschriften keine sehr große Verbreitung haben. Nach vier bis fünf Jahren haben die Schulentwachsenen vieles von dem Gelernten vergessen, und damit schwindet von selbst das Interesse an der einmal gelernten Sprache. Sie kommen zu der Überzeugung, es sei nur eine Angelegenheit der Schule und ohne Wert für das praktische Leben.

Der Film in Irland ist ebenfalls in englischer Sprache. Bei der Bedeutung, die dem Film heute zukommt, liegt in ihm natürlicherweise eine Förderung und unbewußte Scütze der englischen Sprache. Eine wirksame Hilfe in diesen spraddichen Bestrebungen wäre für Irland der irisch gesprochene Film. Aber ein Land mit drei Millionen Einwohner kann es sich nicht leisten, Filme nur für das Inland zu erzeugen und auf den Export von vornherein zu verzichten. Im wirtschaftlichen Leben ist der Einfluß des mächtigen England und seiner Sprache nicht auszuschalten. Zur Zeit der Sinn-Fein-Bewegung war es ein Programmpunkc im Kampfe um die nationale Selbständigkeit, daß mit der Wiedererlangung der nationalen Selbständigkeit nicht nur die Engländer, sondern auch deren Sprache aus dem Lande vertrieben werden müßte. Heute ist die nationale Unabhängigkeit gesichert und die praktischen Gesichtspunkte geben wenig Ansporn, das Irische als Umgangssprache neben das unbedingt notwendige Englisch zu stellen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist das Radio. Der nationale Sender in Dublin hat zwar jeden Tag seine irischen Sendungen, aber im Vordergrund stehen auch dort die Sendungen in englischer Sprache. Man wird selten unter den Durch- schnittsiren einen finden, der nicht lieber die englisdien Sendungen sich anhört als die irischen.

Man hat es daher längst aufgegeben, das Irische als ausschließliche Sprache für den Freistaat zu fordern. Das Ziel der Gaelic League wäre heute, das Irische als zweite lebende Sprache und als Nationalsprache neben das Englische zu stellen, das heißt praktisch würde das Zweisprachigkeit für Irland bedeuten. Da das Irische in Grammatik, Aufbau und Wortschatz vom Englischen vollkommen abweicht, wie etwa eine germanische Sprache vom Slawischen, und da keine wirtschaftliche Notwendigkeit für die Erlernung des Irischen besteht, erhebt sich die Frage, ob der Idealismus der Iren und ihr Nationalstolz so stark sein werden, daß sie das Erlernen ihrer verlorenen Muttersprache durchsetzen. Der Welt- und Ordensklerus des irischen Freistaates, der seit jeher mit den Geschicken des Volkes aufs engste verbunden ist, steht weitestgehend hinter den Bestrebungen der Gaelic League. Aber auch hier trifft man Zweifler. Da unter der Jugend der Nützlichkeitsstandpunkt stark im Vordergrund steht, fehlt der nationale Schwung und Idealismus, der für das Durchsetzen dieser Sprachreform erforderlich wäre und der von der ganzen Jugend des Landes getragen sein müßte. Es wäre dem tapferen Irenvolk zu wnüschen, daß es die fast unüberwindlichen Hindernisse überwinde und, nachdem es sich schon soviel erkämpft hat, auch den Mut zu Rückeroberung seiner alten, an schöner Literatur überreichen Sprache fände.

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