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Können wir noch richtig sprechen?

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Die Fähigkeit, überlegt und präzise auszusprechen, was wir denken und empfinden, verkümmert, unser Reden ist nicht Mitteilung, sondern Zeichen unserer Unruhe - wir verlernen die Sprache!

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Die Fähigkeit, überlegt und präzise auszusprechen, was wir denken und empfinden, verkümmert, unser Reden ist nicht Mitteilung, sondern Zeichen unserer Unruhe - wir verlernen die Sprache!

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„In keiner Sprache kann man sich so schwer verständigen wie in der Sprache", sagt Karl Kraus. Besonders dann, wenn, wie gegenwärtig, so wenig Sorgfalt an sie gewendet wird. Man achtet sie nicht. Man pflegt sie nicht. Sie verkommt. Aber selbstverständlieh benützt man sie. Man benützt sie wie so manches Produkt, das die Werbung als problemlos, stets zur Hand und wartungsfrei anpreist: als Klischee. Dieses erweckt den Eindruck einer allgemeinen Sprache. Aber tatsächlich drückt es nichts aus. Es ist eine falsche Sprache, die vom Leben wegführt.

Bei weitem nicht alles, was gesagt wird, will etwas aussagen. „Der Drang zum Reden ist ein außersprachliches Phänomen, ein Teü des allgemeinen Bewegungsdranges", schreibt Leo Navratil.

Reden nicht als Mitteilung, nicht als Kommunikation, sondern als Symptom der Unruhe - unsere Umwelt ist auch lärmverschmutzt: Sprachfetzen überall, Worthülsen, Satzteile. Der Lärm nimmt zu, und die Sprache verkümmert.

Immer mehr Kinder haben Sprechstörungen und brauchen logopädische Betreuung. Bekannt ist auch, daß die Fähigkeit von Jugendlichen, in ihrer Muttersprache Grundschulniveau zu erreichen, abnimmt.

Die Sprache der Erwachsenen ist für die Kinder kein Vorbild mehr. Wie in der Kleidung und in der Vorliebe für bestimmte Formen der Unterhaltung zeigt sich auch auf dem Gebiet der Sprache eine Homogenisierung der Stile von Kindern und Erwachsenen. Was den einen gefällt, sagt auch den anderen zu. (Der amerikanische Fernsehreport 1980 ergab, daß die Erwachsenen auf die Frage nach den 15 beliebtesten regionalen Fernsehsendungen dieselben Sendungen nannten wie die

Zwölf- bis Siebzehnjährigen, aber auch die Zwei- bis Elfjährigen) Fast hat man den Eindruck, daß die Teenagersprache die der Erwachsenen beeinflußt.

Mit der Sprache verfällt die Höflichkeit, aber auch das Denken, das sich zum Großteil im Medium sprachlicher Repräsentation vollzieht.

Das Denken wird heute kaum jemandem zugemutet. Wichtige Informationen versucht man in zeitsparenden Aha-Erlebnissen zu übermitteln. Denn Geld darf etwas kosten, Zeit aber nicht. Ein Bild ist schneller angeschaut als ein Text aufgenommen. Und wo gelesen werden muß, soll bequem überflogen werden können. Ein Füm ist schneller gesehen als ein Buch gelesen. Auch sieht der Mensch gerne zu und liebt es, daß etwas geschieht. Aber die gelesene und gehörte Sprache läßt innere Bilder entstehen, während der Film uns nichts zu tun übrig läßt. Was keiner Anstrengung bedarf, bewirkt Passivität. Anstatt das Denken herauszufordern, wählt man den passiven Weg der Bewußtseinsbüdung: „Babynahrung" allerorten, die man in sich hineinfließen lassen kann.

Die an allen Ecken und Enden des Büchermarktes seit einiger Zeit anzutreffenden Lesebücher sind bereits Kindernahrung: Mundgerecht in kleine Bissen zerteilt, ausgewählt und vorgelegt, nicht belastend und bequem löffelweise zu genießen. Immer noch verstehen wir unter Lesebuch jenes Schulbuch der Kleinen, das zum Erlernen und Üben des Lesens da ist und sich dadurch vom Bilderbuch unterscheidet. Die Lesebücher für die Erwachsenen, gedacht zum .Anlesen" und zur sanften Reaktivierung der Fähigkeit, aus dem gedruckten Wort Bedeutung abzuleiten, bieten ge-büdete Zerstreuung bzw. zerstreute Büdung. Deshalb sind sie typisch für unsere Zeit. Von der stärker zerstreuenden Wirkung erwartet man sich den größeren Erfolg.

Wir leben in einem visuellen Zeitalter. Die Sprache geriet in eine untergeordnete Position. Wo sie nach wie vor das wichtigste Ausdrucksmittel ist — in der Politik und im öffentlichen Leben —, kommt sie häufig aus dem Sprachfertigteil-Depot. Mit Fertigteilen läßt sich schnell bauen.

Wo findet man eine seriöse Einstellung zur Sprache? Wem ist sie ein wichtiges Anliegen? Die Journalisten haben nicht Zeit, an ihren Sätzen zu feilen. Die Deutschlehrer — sie sollten die Verpflichtung in sich fühlen, klares Denken und Sprechen zu vermitteln — haben vor dem Vorrang des Visuellen resigniert. Sollte bei den Dichtern, den Dienern am Wort, die Genreserve der Sprache liegen? Doch es ist nicht die Aufgabe des Schriftstellers, zu sagen, was wir alle sagen können, sondern das, was wir nicht zu sagen vermögen.

Täglich leiten die Briefträger die Papierflut bis zu den entlegensten Papierkörben. Aber wer schreibt noch Briefe? Wir schreiben nicht, wir telefonieren. Auch die Einsamen werden wahrscheinlich nicht „wachen, lesen, lange Briefe schreiben", sondern fernsehen. Als Brief schreiben eine selbstverständliche und vielgeübte Kommunikationsform war, wurde die Sprache noch ernst genommen. Ein geschriebener Satz kann nicht auf sein Prädikat verzichten. Es ist ihm eine Aussage aufgetragen. Schafft er es nicht, den ihm auferlegten Inhalt auszudrücken, kann er diesen Mangel nicht wie beim Reden durch Anfügen weiterer mangelhafter Sätze ausgleichen. Dem Schreibenden werden die Schwierigkeiten der Sprache bewußt, er muß sich um Klarheit bemühen. Der Redende bleibt unbekümmert und unkritisch.

Es scheint, als verhielten sich unsere Fertigkeiten wie kommunizierende Gefäße: Wo das Latein aus dem Lehrplan genommen wird, stellt sich nach und nach auch ein Niveauverlust in den Kenntnissen lebender Fremdsprachen ein. Wenn Erlebnisse, Gedanken, Gefühle nicht mehr schriftlich formuliert werden, gerät mit der Zeit auch die mündliche Ausdrucksfähigkeit in Schwierigkeiten. Wenn das Schwierigere vermieden wird, wird bald auch das Leichtere schwer.

In den letzten Jahren wurde sehr viel getan, um Natur- und Kulturgüter zu schützen und zu bewahren. Ein Bedürfnis nach

Schönheit meldete sich allerorten. Rettungsaktionen für Häuser, Bäume, Bäche etc. wurden mit großem Aufwand und leidenschaftlichem Einsatz durchgeführt. Der Verlust des natürlichen Formgefühls kam schmerzlich zum Bewußtsein. Nur der Sprache gegenüber gibt es noch keine Sensibilität. Die Muttersprache, Basis unseres geistigen Erbes, unser unmittelbarstes, persönlichstes Kulturgut, verwahrlost. Und als Konsequenz daraus verrohen die Umgangsformen.

Wir wissen, die Menschen haben ein gewisses kreatives Potential, das sich nicht wesentlich vergrößern läßt und daher in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren mit der enormen Vergrößerung der Probleme nicht Schritt halten konnte. Ebenso haben wir ein bestimmtes intellektuelles und emotionelles Fassungsvermögen — zu viel des Guten ist nicht nur nicht gut, sondern schlecht. So wird, was Bildung werden könnte, zur Berieselung, was Wissen werden könnte, zur Zerstreuung, was Bereicherung werden könnte, zum Verlust an Konzentrationsfähigkeit und Vorstellungskraft.

Wir sollten uns fragen, wieviel Gehirnwäsche wir bereits an uns geschehen lassen, wenn wir die Sprache verlernen, und ob wir die Entwicklung des Kulturmenschen zum Automaten weiter fördern wollen. Oder ob wir uns nicht auf die Stelle besinnen sollten, wo Sprache entsteht: auf Denken und Empfinden. Es ist auch der Ort, wo wir angesprochen werden wollen.

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