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Unter Breiten

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Untertreiben ist das Gegenteil von Ueber- treiben und daher eine Tugend, denn Ueber- treiben ist keine. Das klassische Land der Untertreibung soll England sein. Ein Mitbruder erzählte mir, daß er an einem Hochsommertag in ein Eisenbahnabteil stolperte, triefend, lechzenden öaumens, und dies in doppeltem Ausmaß als gewöhnlich, weil er zwei schwere Koffer zu schleppen hatte. Da saß er nun keuchend auf seinem Platz, ihm gegenüber ein würdiger Engländer mit Schweißperlen im Antlitz. Da mein Mitbruder ein Ausländer war, wollte er ein Gespräch anknüpfen und behauptete: Eine entsetzliche Hitze heute! — Worauf ihn der andere tadelnd ansah, aber höflich bemerkte: Ja, es ist etwas warm — und sich mit einem bereits klatschnassen Taschentuch über die Glatze fuhr.

Uns mag eine solche steife Art nicht liegen, aber etwas Untertreibung würde im allgemeinen bestimmt nicht schaden. Wir setzen uns durch übersteigerte Behauptungen ja selbst in überflüssige Erregungszustände. Irgend jemand hat dich auf der Straße nicht bemerkt und daher auch nicht gegrüßt. Das war die nüchterne Wirklichkeit. In der Erzählung nimmt sie sich ganz anders aus: Diese Person, so viel Gutes hab’ ich ihr getan (was übrigens auch eine Uebertreibung ist), und da geht sie, schaut mir frech ins Gesicht, lacht höhnisch und geht mit erhobenem Haupte weiter und grüßt mich betont absichtlich nicht, nur um mich zu ärgern. — Ueberhaupt, wenn fremde Fehler zur Sprache kommen, da wählt man gerne grelle und satte Farben, die abgetönten hebt man sich für fremde Tugenden auf. Aber auch nicht immer. Ja, das gibt’s schon, daß aus einem rätselhaften Grund ein Abwesender derart gelobt wird, daß man wirklich neugierig wird, diese Sondermischung aus allen Tugenden kennenzulernen. Und dann kommt ein gewöhnlicher Mensch zum Vorschein, wie alle andern auch, man kann sich nur trösten, daß er verborgene Werte habe, etwa eine reiche Erbtante in hohen Jahren. Umgekehrt kann sich jemand anklagen: Ich bin der größte Sünder der Welt — und in Wahrheit ist’s nur ein ganz gewöhnlicher Skrupulant.

Man höre sich manchmal die Urteile über Prediger an. Da fällt man über einen her: nicht anzuhören, unmögliche Ansichten, gräßliche Aussprache, fürchterliche Betonung, keine Ahnung vom Dogma, und wie er mit den Armen rudert, andauernd bleibt er stecken usw. Man schaut sich dieses Ungeheuer an, und sachlich ergibt sich: ein leidlicher Prediger, leicht mundartlich gefärbte Aussprache, dogmatisch einwandfreie Lehre, etwas unbeholfene Gebärdensprache. Es gibt aber auch andere Urteile: wunderbare Stimme, unerhört tiefe Gedanken, und wie sprechend seine Hände sind, man braucht gar nichts zu hören, herrlicher Aufbau, mitreißende Steigerungen, alles hält den Atem an, man ist wie in einer anderen Welt usw. Man will auch diese Kanzelgröße erleben, und sachlich ergibt sich:-ein etwas besserer Prediger als der erste, aber für einen zweiten heiligen Chrysosto- mus reicht’s noch lange nicht.

Man verfällt auch gern in Maßlosigkeiten, wenn man eigene Leiden schildert. Hier tut Untertreibung fast immer not. Köstlich die Geschichte (eine wahre Geschichte!) von einem Uebertreiber, der beweglich klagte, er habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Dabei hatte er bei offenen Fenstern von einem kräftigen Gewitter, das das ganze Haus in Angst versetzte, gar nichts gehört. Furchtbare Zahnschmerzen, unerträgliches Kopfweh — damit will man oft nur Eindruck machen. Abgefeimte Nattiren prunken dafür lieber mit fürchterlichen Depressionen. Untertreiben, untertreiben, meine Herrschaften! Besser: mein hohler Zahn rührt sich heut wieder (warum gehst du nicht zum Zahnarzt?), ich hab' ein bisserl Kopfweh, ich war schlecht aufgelegt.

Dann die Urteile über andere Leute: ein gräßlich unausstehlicher Mensch, ein unmöglicher Mensch, einfach nicht auszuhalten. Oder auch: ein unwiderstehlicher Mensch, zum Schwachwerden, eine goldene Seele, himmlische Augen ...

Vielleicht lassen wir uns von Zeitungen und Plakatwänden zu stark beeinflussen. Diese beiden müssen aber einen Schreistil pflegen, weil sie und ihre Sache sonst zuwenig auffallen. Stellen wir uns einen Werbefachmann vor, der für eine Zahnpaste folgenden Werbetext entwirft: Eine gute Zahnpaste, nicht besser und nicht schlechter als die anderen, der Preis übersteigt die Herstellungskosten nicht übermäßig. — So geht’s doch nicht. Es muß die einzig mögliche Zahnpaste sein, die Atomzahnpaste, unüberbietbar billig, das Zähneputzen damit wird zum überwältigenden Erlebnis, sie enthält das für den Körper unentbehrliche Rubicosulfoanilinhydro- acetilid, jenen Stoff, der den Schilkröten ihr langes Leben verbürgt. Ja, der Werbefachmann kommt ohne große und größte Worte nicht aus.

Und deshalb übertreiben wir ja so gern. Wir sind damit Werbefachleute für uns selber. Wir rühren die Trommel, um aufzufallen. Oder wir wollen unsere Angelegenheiten ins grelle Licht stellen. Unsere Angelegenheiten, das sind letzt- Bch ja doch wieder wir selber.

Es ist schade, daß wir in einer solch schrei- seligen Zeit leben. Die echten Werte treten stark mrück, sie machen nämlich keinen Lärm — und haben es auch nicht nötig. Betrachten wir die einfachen Worte Christi im Evangelium. Der Herr spricht von den höchsten Dingen in zurück haltender Art, weil sie eben so groß sind, daß sie durch übergroße Worte fast geschändet würden. Das Himmelreich ist gleich einem Fischernetz, dem Sauerteig, dem Acker, einer Perle, einer verlorenen Münze. Wie erbärmlich stehen wir Kanzeldonnerer vor dieser schlichten Größe!

Lessing schreibt einmal: Ich gebrauche nicht gern einen Superlativ ohne Ursache. — Es gibt eigentlich recht wenig Ursachen für den Gebrauch der höchsten Steigerungsform. Für Gott und die Sünde passen sie, aber alles andere dazwischen müßte sich mit gemäßigten Benennungen begnügen. Eine laute Art ist immer unvornehm. Das übertreibungssüchtige Zeitungsdeutsch darf nicht unsere gewöhnliche Sprache werden. Den Uebertreibungen liegt ja der Mittelpunktswahn zugrunde, eine Krankheit, an der die meisten Menschen leiden. Wir bilden uns

(oft uneingestanden) gerne ein, daß wir die Hauptsache seien, daß wir im Mittelpunkte ständen und daß alles andere sich in einem schönen Kreis um uns aufbauen solle. Unsere Ansichten sollen gelten, unsere Meinungen sich durchsetzen, unser Wille geschehen. Wir wollen die Stelle Gottes einnehmen, dem dies alles Rechtens zukommt. Aber nur Gott hat Kraft und Größe genug, im Mittelpunkt von allem zu stehen. Wir haben sie nicht, das spüren wir auch, und deshalb blasen wir uns auf und suchen durch Geschrei das Fehlende zu ergänzen. Wir tragen aber damit eine Lüge in unser Leben hinein, unsere Haltung ist schief, und das kann sich doch nicht gut auswirken. Wir vernebeln durch Uebertreibungen uns selbst den Blick für die Wirklichkeit und dürfen uns nicht wundern, wenn wir dann fortwährend anstoßen und uns täuschen. Wir sehen ja alle Menschen und Dinge weitaus größer oder kleiner, besser oder schlechter als sie tatsächlich sind. Wie will man da mit ihnen zurechtkommen?

Uebertreibende Menschen werden nicht ernst genommen. Man streicht schon von vornherein ihre Aussagen auf ein Viertel zusammen, und wenn sie über „wahnsinnige Schmerzen“ klagen, verweigert man ihnen Mitleid und Arznei. Ein alter Bauer kam einst in die Stadt und sah im Tiergarten zum erstenmal eine Giraffe. Er musterte kopfschüttelnd die langen,. Beine und den langen. Hals: das seltsam gefleckte FelLjradz den lächerlichen Schwanz und sagte dann: Dös glaub i net! So antwortet ein gesunder Sinn auf LTeberfreibungen. Nehmt es euch zur Lehre, ihr Menschen mit der Giraffensprache!

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