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Das „Recht auf Kultur“

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Kürzlich kam ich auf der Fahrt von Feldkirch nach Innsbruck mit einem jungen Franzosen ins Gespräch, der sich als Professor für deutsche Sprache und Literatur entpuppte. „Eigentlich“, meinte er lächelnd, „müßte ich mich einen .Bekenner' der deutschen Sprache nennen; die Germanisten der Sorbonne sind nämlich gegen Fremdwörter fast noch unduldsamer als der Deutsche Sprachverein. Zwar kann sich jeder Mensch recht eigentlich nur zu einer Sprache bekennen, und das ist seine Muttersprache. Aber die Kraft, die Tiefe, die Schönheit und — die Wahrhaftigkeit Ihrer Sprache darf ich schon bezeugen und möchte es auch.“

„Sprechen Sie nicht von .unserer' Sprache I So leichtfertig, so undankbar, so schnöde geht kein Kulturvolk mit seiner Sprache um wie wir mit unserem Deutsch.“

Mein höflicher Mitreisender wollte das nicht wahrhaben. Ich fuhr fort:

„Lesen Sie ,Die Zukunft unserer Bildungsanstalten' von Nietzsche oder ,Die Sprache' von Karl Kraus, und Sie werden bestätigt finden, was ich sagte. — Uebrigens, haben Sie von der Rechtschreibreform gehört, die gegenwärtig in vielen Köpfen spukt?“

„Ich las davon. Was denken Sie darüber?“

„Gestatten Sie mir zunächst eine Gegenfrage: Die französische Orthographie ist doch weit verwickelter und schwerer zu erlernen als die deutsche. Gibt es in Frankreich niemand, der sie vereinfachen will?“

„O ja, vor einigen Jahren erhoben etliche Ritter der phonetischen Rechtschreibung auch bei uns ihr Haupt.“

„Und?“

„Man hat sie ausgelacht.“

„Glückliches Frankreich!“

„Nun, die Vernunft wird doch auch noch etwas gelten? Eine phonetische Schreibung würde der Flexion, ja der Struktur der französischen Sprache den Todesstoß versetzen. Schreiben wäre leicht gemacht; dafür würde das Lesen durch eine Unzahl gleichklingender Wörter verschiedener Bedeutung (etwa ,san' für sans, sang, s e n s, s e n t, c e n t, s'en) zu einem wahren Rätselraten.“

„Ich freue mich, daß Sie genau so denken wie ich! Sehen Sie, die Kraft und der Tief sinn unserer — Verzeihung —, der deutschen Sprache hängt zu einem guten Teil an der Dichte und Festigkeit des Gewebes ihrer Formen- und Wortfamilien: denken — dachte — danken — Dank — Gedanke — Gedächtnis — dünken — deuchte.

Die von den Reformern geplante Abschaffung des Dehnungs-h und des ie würde dieses Gewebe an vielen Stellen zeireißen. Neben gemach, gemächlich stünde nun a 11 m ä-1 i c h; das Lirwort der Wortfamilie z o g — Z u g — Zügel — zucken — Zucht würde nicht mehr ziehen, sondern ,zien' lauten! Auch das Band zwischen Schriftsprache und Mundart würde zerschnitten: das rid stünde neben dem Ortsnamen Ried, Rieth, fi neben ficher, ficherei. Gerade weil der Lautbestand des Deutschen seit tausend Jahren so stark zusammengeschmolzen ist, braucht jenes Gewebe von Form- und Wortfamilien neben dem Klang dringend die Stütze einer gewachsenen historischen Rechtschreibung.“

„Ja, aber haben die Schulmeister des 17. und 18. Jahrhunderts ie nicht in vielen Wörtern als Längezeichen eingeführt, in denen es historisch gar nicht berechtigt ist?“

„Das ist richtig. Dieses i e ist manchmal sogar vom Standpunkt der Phonetik anfechtbar. Lid. wider lauten wie Lied, wieder! Aber es hilft Homonymen unterscheiden. Ist es denn wirklich verlorene Zeit, wenn der Volksschüler lernt, wiederkehren, wiederum von Widerhaken, widrig, erwidern zu unterscheiden? Wird da nicht ein gutes Stück Denkarbeit geleistet?“

„Ich gebe Ihnen recht. Wir sehen jedenfalls im aecord du partieipe passe, dessen Endungen fast nie gesprochen werden, eine vorzügliche Denkschulung.“

„Der deutsche Linguist und Erzpositivist Hermann Paul meinte allerdings, daß bei der Erlernung der Orthographie viel schöne Zeit ver-. geudet werde.“ '

„Ich glaube, wir stoßen hier auf ein weitverbreitetes Vorurteil, das sogar — verzeihen Sie! — in der deutschen Sprache ihren Niederschlag gefunden hat, und zwar in der Redensart ,äußere Form'. Wie sollte Form denn etwas bloß Aeußerliches, Unwesentliches sein? Form und Wesen sind miteinander gewachsen, sind untrennbar eins. Auf Goethe kann sich jenes Vorurteil nicht berufen: .Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: denn was innen, das ist außen.'“

„Hier legen Sie den Finger auf eine tiefe Wunde. Dieser mangelnde Sinn für gewachsene Form ist ja daran schuld, daß wir immer wieder fremden Lebens-, und Gesellschaftsformen blindlings nachjagten. Wenn wir sie erreicht hatten, mußten wir freilich bemerken: Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe. Die deutsche Geschichte der letzten 150 Jahre weiß ein Lied davon zu singen. Gegenwärtig begnügen wir uns anscheinend, den Franzosen und Engländern die klein geschriebenen Hauptwörter abzugucken.“

„Ich beschäftigte mich als Student mit Stefan George, der die Hauptwörter bekanntlich klein schreibt. Sie würden kaum glauben, wie sehr das Verständnis seiner Gedichte dem Ausländer dadurch erschwert ist.. Die Großschreibung der Hauptwörter mildert die Schwierigkeiten, die die freie Wortfolge und Betonung und der oft so verwickelte Satzbau der deutschen Sprache uns bietet, ganz erheblich.“

„Glauben Sie mir, auch der minderbegabte Volksschüler würde die Erleichterung der Rechtschreibung mit einer Erschwerung des Lesens bezahlen müssen! — Und wäre Kant im Gewarid der neuen Orthographie noch lesbar? — Auch ein großer Mann kann irren. Dem Romantiker Grimm galt alte Schreibung wie die alte Sprache als schlechthin vorbildlich. Er bedachte zu wenig, wie die Entwicklung des Denkens und der Z'v''lsaton die Sprache seit 700 Jahren gewandelt hat, wieviel abstrakter sie geworden ist. — Das Beispiel der anderen Weltsprachen ist für uns nicht maßgebend. Hier ist eine Auswahl von Sätzen, die durch die neue Rechtschreibung doppelsinnig oder doch schwer verständlich werden: Der stand am unteren ende des marktes; dise sucht zu genissen; di schönsten sagen: bei welchen Völkern finden wir si? Di Staatsmänner, di reden, was kümmern si uns? Di schändarmen, di schüzen nicht; dise bitten, jene fragen, andere klagen. Wi di schiiter der ab-schlussklasse den saz: .alles wissen macht kopfweh' auffassen werden, ist kaum zweifelhaft!

„Was sagen die Reformer dazu?“

„Sie wenden ein, der Zusammenhang, der Kontext schb'eße in allen solchen- Fällen einen Irrtum aus. Gewiß, wer geübt ist, größere Zusammenhänge zu überblicken, das Wesentliche rasch zu erfassen, der würde auch beim Lesen .reformierter' Texte nicht auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen. Aber die Schüler der Abschlußklassen? Das sind ja eben die, die schon jetzt nicht fähig sind, fließend und sinngemäß zu lesen, die jetzt schon über vieles halb

Verstandene und Unverstandene hinweglesen. Für die wird das Lesen nach der Reform zu einem Hindernisrennen.“

„Ihre Reformer werden aber sicher fragen, warum es denn in allen anderen Sprachen gehe? Sie können sich auf Jakob Grimm berufen!“

„Weil der deutsche Sprachbau grundlegend von dem der anderen europäischen Sprachen abweicht. ,Die Großschreibung war nicht etwa eine bloße Schrulle des Barocks, sondern entsprang der Erkenntnis, daß eine Sprache, in der es eine Unsumme von ganz gleichlautenden Infinitiven und Substantiven gibt, in ihrer Schrift eines äußeren Unterscheidungszeichens nicht entraten kann; insbesondere dann, wenn diese Verbalformen eine vom gleichlautenden Substantiv grundverschiedene Bedeutung haben. (Pd. Dr. R. John in der .Oesterreichischen Hochschulzeitung' vom 1. März 1955.) Die Nennform ist bei weitem nicht die einzige Zeitwortform auf -en; es gibt auch Doppelformen auf -e und -t, wie folgende Beispiele dartun: leben - Leben (gegen vi vre - vie)s glauben (croire — foi); vermögen, gebieten, geigen, laden, leiden, lügen, gestalten, graben, erben, flechten; gelassen, gehalten; habe, labe, schmisse, webe, weihe; macht, sucht. Auch das Verhältnis von Hauptwort und Eigenschaftswort ist im Deutschen und im Romanischen grundverschieden. In dem Schriftbild der Sätze: Mir ist angst — ich habe Angst; er ist uns feind — er ist unser Feind, wird der Unterschied zwischen dem tief innerlichen Gefühl, dem Wesen, der Gesinnung, die das endungslose deutsche Eigenschaftswort so rein ausdrückt, und der äußerlichen, konventionellen Tatsache der Besorgnis, der Feindschaft sinnfällig.“

„Da haben Sie recht! Die französische Sprache könnte mit dieser Unterscheidung nichts anfangen, weil Adjektiv und Substantiv einander hier so nahe stehen, daß sie oft kaum zu unterscheiden sind. Etwa: II est musicien — er ist Musiker, oder musikalisch; une Fran-gaise — eine Französin, la langue fran-caise — die französische Sprache; il est conser-vateur — Konservator oder konservativ; il est catholique — Katholik oder katholisch.“

„Wie Wortklang und Wortbedeutung in enger, unauflöslicher Ehe leben, so ist unsere Muttersprache auch mit der Schrift einen Bund eingegangen, den Goethe und Schiller, Claudius, Novalis, Grillparzer und Stifter befestigt und geadelt haben. Der deutsche Sprachgeist hat sich seit dreihundert Jahren eingehaust in die Großschreibung des Hauptwortes.“

„Eine letzte Frage: Soll man die Fremdwörter latitgetreu schreiben?“

„Das wäre nicht nur ein Schlag gegen die abendländische Kulturgemeinschaft, sondern liefe — wie diese ganze Reform — dem Geist der deutschen Sprache schnurstracks zuwider. Dadurch, daß die Fremdwörter ihre ursprüngliche Betonung und Aussprache im Deutschen beibehalten, bleiben sie Fremdlinge. Das AHer-heiligste ist die Sprache, die Zwiesprache von Mutter und Kind, die Sprache des Gedichtes und des Gebetes bleibt ihnen verschlossen. Das im 13. Jahrhundert aufgenommene Lehnwort Körper bezeichnet bis heute vorzüglich den toten Körper, den Körper als Materie, als Werkzeug; der belebte und beseelte Körper aber heißt Leib. — Welch ungeahnte Möglichkeiten würden der Volksetymologie durch die Reform eröffnet: der schandarm, die schände und das glück; das nuzfi, das rindfi, di biografi, di ortografi!“

„Greulich! Gasconnades, gasconnades!“

„Wie übersetzen wir das unseren Reformern? Die Reform der Rechtschreibung — welch ein Schildbürgerstreich!“

„Aber, sollte man nicht doch etwas für den mäßig begabten Völksschüler tun? Kürzlich klagte mir ein österreichischer Oberlehrer, wer am Ende der 4. Klasse in einem Diktat bestimmten Ausmaßes mehr als acht Fehler mache, den lasse der Inspektor nicht in die Hauptschule aufsteigen.“

„Das heißt nun freilich die Rechtschreibung überschätzen und den visuellen Schülertyp ungerecht bevorzugen. Diesem Uebereifer sollte das Unterrichtsministerium durch einen Erlaß steuern. Verstöße gegen die Groß- und Kleinschreibung könnten je nach Altersstufe gar nicht gerechnet oder mild beurteilt werden Zu fordern aber ist die Ltnterscheidung. Es gibt keine Kultur ohne Elite, und man kann nicht früh genug anfangen, diese heranzubilden.

Wer aber den 3. und 4. Fall nicht unterscheiden kann, dem verhilft keine Rechtschreibreform dazu, korrekt zu schreiben. Er sei trotzdem unverzagt. Mit einem deutsch reden heißt immer noch, die Wahrheit sagen, und rechttun. rechtschaffen sein bedeutet unendlich mehr als rechtschreiben. Und letzten Endes lernen wir alle weder hier noch dort jemals aus!“

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