Nur nicht fährtig machen!

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Anmerkungen eines Linguisten zur aktuellen Rechtschreibdebatte.

Um es gleich deutlich zu sagen: Ein historischer Sprachwissenschaftler lässt sich von orthographischen Streitfragen nur schwer aus der Ruhe bringen. Wenn er neben der Wortgeschichte auch den Sprachenvergleich zu seinem Fach erwählt hat, blickt er kühl und gelassen auf die hitzigen Erregungen und veröffentlichten Meinungen der jüngsten Zeit. Nicht aus Nachlässigkeit oder um sich einer Verpflichtung zu entziehen, sondern aus der festen Überzeugung, dass jede Reform einer Sprache, die weit über 1.000 Jahre schriftlich überliefert ist, nur ein Kompromiss, eine Annäherung, eine graduelle Anpassung der Schreibung an die Sprachentwicklung und die lautlichen Gegebenheiten sein kann. Es ist also jedenfalls ein behutsames Verfahren, eine Methode der kleinen Schritte angesagt.

Stämpel

Die Diskrepanz zwischen Herkunft und Schreibung eines Wortes ist für den Linguisten auch dort überdeutlich, wo noch kein Rechtschreibapostel hingelangt hat. So schreibt man das Zeitwort kosten in seinen beiden Verwendungsweisen ("Ich koste das Fleisch" - "Das Fleisch kostet viel") völlig gleich, obwohl diese Lesarten ganz verschiedenen Ursprungs sind (lateinisch gustare gegenüber constare). Vergleichbares gilt für die beiden Bedeutungsvarianten von unter ("unter dem Tisch liegen" - "unter die Leute gehen"), von denen die erstere dem lateinischen infra, die letztere aber intra entspricht. Dagegen hat die orthographische Norm schon längst zwischen wider ("gegen") und wieder ("erneut" bzw. "zurück") verbindlich unterschieden, obwohl es sich etymologisch um dasselbe Wort handelt und Beispiele wie widerspiegeln neben wiedergeben Zweifel an der Stringenz dieser Regel aufkommen lassen.

Doch wenden wir uns einigen Aspekten der jüngsten Rechtschreibreform zu, die in diesen Wochen, wohl auch als Torschlusspanik, die Gemüter von Verlegern, Journalisten, Schriftstellern, Lehrern und Politikern erhitzt (die jeweilige weibliche Variante ist dabei selbstredend mitgemeint!). Eine Problemzone erkenne ich in der Ausweitung der ä-Schreibung. Dort, wo Sprachgeschichte und Sprecherintuition am selben Strang und in die gleiche Richtung ziehen, hat die Reform Verbesserungen gebracht: überschwänglich gehört zu Überschwang, und auch die Orientierung von Gämse an Gams mag durchgehen. Kritisch wird es bereits bei der neuen Orthographie von Stängel. Die Ableitung von Stange steht außer Streit; doch ist dem Sprachbenützer eine Beziehung zwischen Stoßstange und Glimmstängel noch bewusst, da sie - von der unterschiedlichen Form und Funktion einmal abgesehen - jeweils anderen Sinnbezirken angehören? Wäre es da nicht ebenso berechtigt, Stämpel zu schreiben, da dieses Substantiv von einer niederdeutschen Variante des Verbums stampfen abgeleitet ist und zudem das Fremdwort Stampiglie die Assoziation bekräftigt? Einen seltsamen Mittelweg geht die Reform bei Derivaten von blass. Blässe als Abstraktum stellt die Beziehung zum Grundwort her, Blesse als "weißer Fleck" wird davon orthographisch abgetrennt und bei Blässhuhn/Blesshuhn werden beide Varianten anerkannt. Dass man beim Schnäuzen nicht "die Schnauze hält", ist bereits wiederholt kritisch vermerkt worden. Zu aufwendig ist eine Wechselform aufwändig zugelassen (wegen Aufwand), die freilich aus der Reihe der sonstigen Adjektive tanzt (notwendig, auswendig usw.). Warum ist man nicht denselben Weg bei mühselig oder trübselig gegangen, die sich doch beide von Mühsal und Trübsal herleiten? Denkt man Fälle dieser Art als Sprachhistoriker weiter, dann ließe sich sogar die Schreibung fährtig (statt fertig) rechtfertigen, da sich das Vokabel von Fahrt herleitet ("bist du fertig?", d.h. "zur Fahrt bereit").

A propos Etymologie: Die neue Rechtschreibung ist großzügig gegenüber Volksetymologie, also der eigentlich falschen, aber inhaltlich plausiblen Anpassung bzw. Umdeutung von Wörtern nach neuen Vorbildern. Zwar führt die Sündflut neben der korrekten Sintflut nur ein marginales Dasein. Dafür wird ein- bzw. verbläuen zur richtigen Schreibung aufgewertet, obwohl das Verbum nichts mit blau zu schaffen hat, sondern auf ein altes Verbum für "schlagen" (vgl. Pleuelstange, Bleuel = "Mörserkeule") zurückgeht. Auch der jetzt Messner geschriebene Kirchendiener hat wortgeschichtlich nichts mit der Messe zu tun, sondern gehört zu lateinisch mansio ("Bleibe"; franz. maison).

Fysik

Da wir nunmehr bei Fremdwörtern gelandet sind, sollen ein paar Bemerkungen zur ph-Schreibung des griechisch getönten Bildungsvokabulars folgen. Dass sich die neue Orthographie hierbei sukzessive der tatsächlichen Aussprache öffnet, also Saxofon und Geografie zulässt und Mikrofon oder Fotograf zur bevorzugten Variante erhebt, mag man als liberalen Zug begrüßen. Doch entstehen dadurch Asymmetrien, die durch Frequenz und Geläufigkeit eines Ausdrucks nicht immer befriedigend erklärt werden können. Denn technische Termini oder medizinische Fachwörter dringen oft sehr rasch in die Standardsprache ein. So wirkt es seltsam, dass zwar Topografie und Typografie aufscheinen, Tomografie aber als Variante fehlt. Und bei allen Unterschieden im Gebrauch sollte nicht übersehen werden, dass Grammofon und Stereofonie das gleiche Basiswort wie Polyphonie und Kakophonie enthalten. An ehrwürdige Bezeichnungen von Wissenschaftszweigen rührt die Reform also kaum. Damit ist auch der alberne Witz nicht obsolet, wonach eine Sekretärin die Schreibung Fysik in einem Brief damit rechtfertigt, das das V auf ihrer Maschine klemmt.

Rau, jä und ro

Halbheiten und unbefriedigende Lösungen finden sich in manchem Einzelfall. Auch bei der Orthographie steckt der Teufel im Detail. Dass nummerieren nur noch in der deutschen Form (zu Nummer) zugelassen wird, befremdet wegen des für Fremdwörter typischen Suffixes, aber auch im Hinblick auf numerisch. Die neue Schreibung Zierrat mach aus dem alten Suffix -at ein bedeutungstragendes Wort. Der Anschluss an Verrat und Vorrat ist so falsch wie intuitiv unbefriedigend. Diese beiden Wörter haben mit einer Verzierung semantisch so viel zu tun wie der Hausrat mit dem Hofrat. Außerdem: warum schreibt man die gleichfalls isolierte Ableitung zum Eigenschaftswort arm nicht gleichfalls Armmut? Mit der neuen Orthographie von rauh habe ich eine doppelte Schwierigkeit: als Linguist, weil es sich um kein Dehnungs-h, sondern um den Reflex eines früheren Lautes handelt; als Sprachbenützer, weil mir die Argumentation zu dürftig ist. Wenn schon rau, dann auch jä und ro!

Die Schreibung von Dreifachlauten lasse ich mir gefallen. So wird es gleich beim Lesen klar, dass das Stillleben von der Stille herkommt und (wenigstens sprachlich) nichts mit Stil zu schaffen hat. Und wen das Dickicht in Schifffahrt, Kaffeeersatz oder Krepppapier stört, der kann sich für ein in solchen Fällen zulässiges Bindestrichkompositum (Schiff-Fahrt usw.) entscheiden. Die gleiche Wahlfreiheit gilt auch für unterschiedlich deutbare Zusammensetzungen. Das hilfreiche Zeichen lässt erst gar keinen Zweifel darüber aufkommen, ob Musik-Erleben oder Musiker-Leben, ob Fluch-Traum oder Flucht-Raum gemeint ist.

Die oft angeregte Kleinschreibung von Substantiven (mit Ausnahme von Eigennamen) ist unterblieben, was manche Radikaldenker bedauern mögen. Mir ist dazu eine Diskussion lebhaft in Erinnerung, bei der ein Teilnehmer vorgeschlagen hat, künftig nur noch Unikate groß zu schreiben. Zum Beispiel: die Donau gibt es nur einmal, daher groß; das Donauufer kommt zweifach vor, daher klein; die Donauuferbahn hingegen wieder nur einmal, daher groß. Wie übersichtlich und einleuchtend. Die nahe liegende Frage, wie es dann mit der Donauuferbahnstation aussehe, habe ich schweren Herzens unterdrückt.

Zum Abschluss noch ein persönliches Schmerzenskind: Trotz mancher Argumente für die Behandlung unfester Verbkomposita liefert die Praxis ständig Beispiele, bei denen die Rechtschreibung weder der Sprecherintuition noch der Ausdrucksabsicht entspricht. So teilt fernbleiben mit fern liegen und fern stehen zu viele Merkmale, um die unterschiedliche Orthographie kognitiv zu verankern. Zwischen einem in einem Gegenstand gut unterrichteten Schüler und den notorisch "gut unterrichteten Kreisen" klafft eine semantische Differenz: zuerst Vorgang, dann Dauerzustand. Ferner sollte man auch im Schriftbild markieren können, ob jemand einen Wecker richtig stellt oder eine Aussage richtigstellt.

Richtig Gestelltes

Ich breche hier ab und versuche ein Resümee. Orthographie ist (anders als Geographie) keine eigentliche Wissenschaft, sondern eine Anweisung mit normativem oder empfehlendem Anspruch. Sie soll auf Erkenntnissen der Sprachwissenschaft (Wortgeschichte, Grammatik, Semantik, Analogie, Sprachpsychologie) basieren und vor allem praktikabel sein. In diesem Verständnis ist die neue Rechtschreibung keine dramatische, gar revolutionäre Veränderung, sondern eine gemächliche Justierung, die vielleicht manchmal vorsichtiger, in anderen Punkten fortschrittlicher hätte sein können. Eine Rücknahme der Reform brächte wenig. Vor allem aber soll die jetzt heranwachsende Generation, sollen die Schüler und ihre Eltern nicht unnötig (und mit hohen Kosten) verunsichert werden. Denn bei aller möglichen Kritik: an der Schreibweise einzelner Wörter hängen weder hohe ethische Werte noch künftige kulturelle Perspektiven des Abendlandes.

Der Autor ist Professor für Sprachwissenschaft in Salzburg.

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