6875532-1978_42_11.jpg
Digital In Arbeit

Kleinschreibung - eine Weltanschauung?

19451960198020002020

Der Streit um die Reform der Rechtschreibung ist so alt wie deren Festlegung. In Wien tagten in der Vorwoche die Anhänger einer gemäßigten Kleinschreibung, im Frühjahr nächsten Jahres werden ebenfalls hier die Vertreter einer vereinfachten Großschreibung zusammenkommen. Univ.-Prof. Dr. Maria Hornung von der Kommission für Mundartkunde und Namenforschung der österreichischen Akademie der Wissenschaften legt ihre Argumente für die Beibehaltung der Großschreibung vor. Zwei weitere Beiträge werden folgen.

19451960198020002020

Der Streit um die Reform der Rechtschreibung ist so alt wie deren Festlegung. In Wien tagten in der Vorwoche die Anhänger einer gemäßigten Kleinschreibung, im Frühjahr nächsten Jahres werden ebenfalls hier die Vertreter einer vereinfachten Großschreibung zusammenkommen. Univ.-Prof. Dr. Maria Hornung von der Kommission für Mundartkunde und Namenforschung der österreichischen Akademie der Wissenschaften legt ihre Argumente für die Beibehaltung der Großschreibung vor. Zwei weitere Beiträge werden folgen.

Werbung
Werbung
Werbung

Die für die Orthographie maßgeblichen Persönlichkeiten in den vier deutschsprachigen Staaten - Germanisten, Lehrer, Autoren, Verleger - treten neuerdings in eine weitere Phase (ihres zähen, ja erbitterten Kampfes um die Frage der Substan-stivgroßschreibung ein. Wenn man seit Jahren, auf Grund eigener Forschungen, Versuchsarbeiten und Publikationen in diese Auseinandersetzungen verwickelt ist, tut es gut, einmal kurz das Schlachtfeld zu verlassen und Atem holend die Szene von außen zu betrachten.

Kein anderes Volk ist um seine Rechtschreibung so besorgt wie die Menschen deutscher Zunge. Der Franzose hat seine Schreibung durch die academie fran<jaise sicher einzementiert; der Engländer rührt nicht daran, wenn auch die Entfernung zwischen Schriftbildern vnedraught, bought und Aussprachen wie draaft, b&at, schon manchmal etwas ärgerlich ist. In den beiden Teilen Deutschlands, in Österreich und der Schweiz befassen sich wissenschaftliche Kommissionen und Gremien aller Art, nicht zuletzt auch eigene Vereine, eingehend, aber bisher erfolglos mit den Fragen einer Orthographiereform.

Wettlauf zwischen Bayern und Preußen

Das Bemühen um die Gestaltung unserer Orthographie hat seine eigene Geschichte. Noch zur Zeit Goethes und Schillers war man weit von einheitlicher Schreibung entfernt. 1855 gab Hannover ein Regelbuch heraus, 1861 Württemberg. Nach 1870 ergriff der preußische Staat die Initiative einer reichseinheitlichen Regelung, fand aber in Bayern einen gewaltigen Gegenspieler. Bayern und Preußen traten in einen faszinierenden Wettlauf. 1880 erschien das erste preußische Regelbuch, das „Orthographische Wörterbuch“ des Hersfelder Gymnasialdirektors Konrad Duden. 1901 kam es zu einer großen Orthographiekonferenz. Oscar Brenner trat als bayrischer Vertreter mit einer großen Wunschliste auf (z. B. Vereinfachungen der Doppelschreibungen mit ai [Mai] und ei [Heide], äu [läuten] und eu [heute] usw.). Die meisten Postulate blieben auf der Wunschliste stehen. Immerhin kam es zur Aufgabe der th-Schreibung in deutschstämmigen Wörtern, wie T(h)ür, T(h)al. Österreich schloß sich 1902 den Neuregelungen an mit dem der alten Generation noch geläufigen Büchlein „Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis. Einzige vom k. k. Ministerium für Kultur und Unterricht autorisierte Ausgabe“.

Nach dem Ersten Weltkrieg machten sich wieder Reformbestrebungen bemerkbar. Die Großschreibung der Substantiva - die seit etwa 250 Jahren im deutschen Schriftgebrauch festgeworden war - wurde in den Leitsätzen für eine Reform in der heute üblichen Weise festgelegt; Substantivierungen (der Nächste, etwas Schönes) sollten groß geschrieben werden, ihre Kleinschreibung aber

freigegeben werden. Diesen Liberalisierungsbestrebungen zum Trotz wurden in der Folge immer mehr erschwerende Bestimmungen für die Orthographie der Groß- und Kleinschreibung ausgetüftelt.

Die semantische Unterscheidung von konkretem Gebrauch (Er tappt im Dunkeln nach Hause) und übertragener Anwendung (Er tappt in dieser Angelegenheit im dunkeln) führte zur Vorschrift verschiedener Schreibung, wie sie heute noch üblich ist und meist nur von auserwählten Kennern der Orthographie beherrscht wird. Viele Lehrer schlagen - ehe sie die berüchtigten roten Striche machen - selbst nach, im Wörterbuch oder im Duden-Taschenbuch Nr. 6 „Wann schreibt man groß, wann schreibt man klein“. Der Aufschrei nach einer Reform wurde 1931 laut, t blieb aber durch den Ausbruch der nationalsozialistischen Ära ohne Folgen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Reformforderungen noch radikaler. Die Gefahr, daß örtliche Sonderregelungen ohne Rücksicht auf die gesamte Sprachgemeinschaft getroffen würden, war ziemlich akut. 1954 entwickelten sich aus dem brodelnden Chaos die schon relativ gemäßigten „Stuttgarter Empfehlungen“, 1958 die „Wiesbadener Empfehlungen“. Auf sie stützten sich die „Wiener Empfehlungen“ der „österreichischen gesellschaft für Sprach-

pflege und rechtschreiberneuerung“ von 1973 für eine „gemäßigte klein-schreibung“. Sie sieht nach der Fas-stung von 1976 vor, daß die Satzanfänge, die Anredefürwörter (Sie, Du, Dich usw.) sowie die Eigennamen groß geschrieben werden.

Hier beginnen jedoch die bisher nicht überwundenen Schwierigkeiten: Der chefder Firma Mercedes (Eigenname) fährt natürlich einen mer-%cedes (Gattungsname). In Beinamen sollen auch die „kleinen“ Wörter groß geschrieben werden: Walther Von Der Vogelweide. Zusammensetzungen mit Eigennamen sehen besonders merkwürdig aus: Diesel-motor, blumen-Breughel. Die habsburger und die danaiden werden nach diesem Regelwerk kleingeschrieben ebenso wie die linzerin und der wiener. Die Entscheidung, ob es sich um einen Eigennamen handelt, muß der Schriftbenützer stets neu fällen: unser Mond ist groß, die monde des Jupiter aber sollen klein sein... Besonders originell ist der Vorschlag, Titel von literarischen Werken „durchzukoppeln“: Der-schuss-von-der-kan-zel.

Was erwarten sich die „Kleinschreiber“ von einer so umstürzenden Veränderung unseres Schriftbildes? Während, wie eine Veröffentlichung von 1974 gezeigt hat, nur wenige Autoren und Verleger für diese „gemäßigte Kleinschreibung“ eintreten, sind es vor allem die Pflichtschullehrer, die die Aufgabe der Substantivgroßschreibung fordern. Aus ihr erwüchsen die meisten Rechtschreibfehler in den Volks- und Hauptschulen. Die Kleinschreibung würde erst eine Chancengleichheit der Schüler sichern. Wer schon im (privilegierten) Elternhaus mit Büchern in Berührung komme, habe es den anderen gegenüber leichter, die Rechtschreibung zu erlernen.

Demgegenüber hat allerdings eine 1977 publizierte, an zahlreichen Schulen in verschiedenen Teilen

Österreichs erhobene Fehlerstatistik ergeben, daß die meisten Fehler, 46 Prozent, auf Satzzeichen entfallen, nur 17 Prozent auf die Groß- und Kleinschreibung, 15 Prozent auf Fehler in der Bezeichnung von Länge und Kürze (ie, stummes h, Doppelvokal, Döppelkonsonant), 8 Prozent auf die s-Schreibung, der Rest auf weiteres. Mit einer einfacheren Beistrichregelung wäre also schon viel geholfen. Schreibversuche, die in derselben Publikation vorgelegt wurden, haben gezeigt, daß eine Entschärfung der Zweifelsfalle durch ein vereinfachtes System der Substantivgroßschreibung wahre Wunder in der Herabsetzung der Fehlerquote bewirken würde.

Ein solches System einer „vereinfachten Großschreibung“ hat der bekannte Normungsfachmann Eugen Wüster schon 1962 vorgelegt. Inzwischen konnte sein Grundgedanke, daß der Substantivbegriff der Ausgangspunkt für eine sinnvolle Großschreibung sei, in einem neuen Regelwerk auf der Basis von Liberalisierung und Formalisierung eine noch befriedigendere Verwirklichung finden, besonders was die Substantivierung anderer Wortarten anlangt. Mitverarbeitet wurde darin auch die leidige Frage der Getrennt-und Zusammenschreibung (bisher schrieb man: Auto fahren, aber rad-fahrenl Warum?).

Im übrigen ist unsere Schrift nicht nur zum Schreiben, sondern viel mehr noch zum Lesen da. Eingehende, von Psychologen unternommene Versuche haben gezeigt, daß besonders beim stillen Lesen unter Zeitdruck die Großschreibung der Substantiva eine höhere Lesegeschwindigkeit ermöglicht. Die überwiegende Mehrheit der Lehrer, die Deutsch für Ausländer unterrichtet, kann sich einen Deutschunterricht ohne die Hüfe der Großschreibung nicht vorstellen.. Die Tatsache, daß das deutsche Volk im Mittelalter kleingeschrieben hat, ist wohl kein ausreichender Grund, um zu diesem System zurückzukehren.

Die deutsche Sprache hat nun einmal im Lauf von Jahrhunderten die Möglichkeit entwickelt, durch die schriftliche Signalisierung des Sub-stantives sinnhafte Aussagen zu treffen: Das liebe ich! - Das liebe Ich! Wozu sollte der von den unüberzeug-baren Kleinschreibern geforderte Rückschritt ins Mittelalter dienen? Ist die Schreibung der Hauptwörter wirklich eine Weltanschauung geworden?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung