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Sprache und Schrift

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Nicht nur die Sprache ist lebendig, sondern auch die Schrift. Deshalb waren alle Versuche, die Rechtschreibung radikal zu ändern und zu erneuern — diese Versuche gehen ins 19., ja bis ans Ende des 18. Jahrhunderts zurück —, zum Scheitern verurteilt. Nur jene Neuerungen, die eine Kodifizierung der allmählichen lebendigen Entwicklung unserer Schrift darstellten, konnten durchdringen. Halten wir an dieser Erfahrungstatsache fest, wenn wir die seit 1954 betriebenen Reformpläne beurteilen wollen.

1952 wurde auf Anregung von Dr. Thierfelder, Stuttgart, in Konstanz eine Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege gegründet, 1953 fand eine Tagung in Salzburg statt, noch in demselben Jahr wurden in Schaffhausen die Unterlagen für die geplante Erneuerung der deutschen Rechtschreibung geordnet. Davon ausgehend, beschloß 1954 eine Tagung in Stuttgart die „Empfehlungen zur Erneuerung der deutschen Rechtschreibung“.

In der Begründung der Empfehlungen heißt es, der Zeitpunkt für diese Umwälzung sei jetzt besonders günstig. Das Gegenteil ist der Fall. Nach zwei unerhört verderblichen Kriegen steht das deutschsprachige Mitteleuropa in einer kulturell und politisch höchst bedenklichen Situation zwischen Ost und West. Nie noch war die Zeit für eine tiefgreifende Reform unserer Schrift ungünstiger als heute.

Die bedeutendsten Aenderungen, die die Stuttgarter Empfehlungen wünschen, sind die Kleinschreibung der Hauptwörter und die phonetische, laüttreue Wiedergabe der gesprochenen Wörter einschließlich der Fremdwörter. Es folgen noch Anregungen für die Verwendung des Beistrichs, für die Silbentrennung usw. Die lebhaften Auseinandersetzungen über diese Reformpläne schienen zu Ende zu gehen, als sich die zuständigen Stellen der deutschsprachigen Staaten, Deutschland, Oesterreich und Schweiz, entschieden gegen Aenderungen im Sinne Stuttgarts ausgesprochen hatten.

Unter dem Eindruck der Ablehnung ihrer Pläne haben die Reformer vorläufig auf eine radikale' Refc» -vSrzichtft Füf dle"'Ide6J der Kleinschreibung der Hauptwörter' aber werben ‘ nunmehr die gemäßigten „Wiesbadner Empfehlungen“, so daß man sich mit ihren Beweismitteln neuerlich befassen muß.

Die Kleinschreibung der Hauptwörter, mit Ausnahme des Satzanfangs und der Eigennamen einschließlich des Namen Gottes, wird seit den Stuttgarter Empfehlungen als „gemäßigte Kleinschreibung“ bezeichnet. Auch sie wäre aber schon eine überaus radikale Aenderung. Sehr bedenklich mutet die Meinung an, es bestehe im Deutschen eine deutliche Hinneigung zur Kleinschreibung. In der ornamentalen Schrift, von gewissen Zierschriften abgesehen, überwiegt seit jeher das Bestreben, den Wechsel von Groß- und Kleinbuchstaben zu vermeiden. Die meisten Inschriften an Denkmälern bestehen ganz aus Versalien, Großbuchstaben, und neuerdings auch zuweilen aus Kleinbuchstaben, einschließlich der Satzanfänge. Dies ist aber eine Sache der Graphiker und nicht der „Lesenden“. Dazu tritt noch die Sucht, Fremdes nachzuahmen. Jedem politischen Niederbruch folgt die Tendenz, den Stärkeren zu kopieren.

Und damit hängt auch die Auffassung zusammen, eine Kleinschreibung werde den Ausländern beim Erlernen des Deutschen zugute kommen. Das ist sachlich falsch. Gar der Hinweis auf die

Werke von Stefan George zeigt uns die Hinfälligkeit der Beweismittel. Stefan George schrieb alles mit kleinen Anfangsbuchstaben. Dies aber hatte — wie der Augenschein sogleich ergibt — nicht den Zweck, seine Verse leichter lesbar zu machen, im Gegenteil, die Kleinschrift hemmt den Leser, sie zwingt ihn, nach der Absicht des Dichters, zu langsamem Lesen und soll dazu führen, daß wir uns um jedes Wort der Verse bemühen.

Im Deutschen können Wörter aller Art ohne weiteres in Hauptwörter verwandelt werden. Aus dieser Besonderheit unserer Sprache ergibt sich die Notwendigkeit der Großschreibung. Man könnte als erheiternde Proben viele Sätze anführen, die durch die eben erwähnte Eigenart der deutschen Sprache zweideutig, mehrdeutig und damit unverständlich würden, wollten wir die Hauptwörter klein schreiben.

Hier nur zwei Beispiele. „Man kann Weise reden hören.“ Je nachdem, ob groß oder klein geschrieben, hat dieser Satz drei Bedeutungen: Man kann weise Leute reden hören. — Man kann weise Reden hören. — Man kann gescheit sprechen hören. Oder: „Man beschloß eine Hilfsaktion, die ausschließlich Kranken und notleidenden Kindern zukommen sollte." Bei Kleinschreibung ist auch dieser Satz unverständlich. Kam die Aktion Kranken und Kindern zugute oder nur kranken und notleidenden Kindern?

Unsere Schrift braucht aber die Großbuchstaben nicht nur zur Klarheit und Eindeutigkeit des Ausgedrückten. Sie besitzt auch vor den Schriften der anderen Sprachen den unermeßlichen Vorzug der Großschreibung der Hauptwörter, der für die Lesbarkeit von höchstem Nutzen ist. Sollten wir diesen Vorzug aufgeben, weil er anderen Schriften fehlt?

Manche Verfechter der Kleinschreibung stellen die unrichtige Alternative auf: Entweder Beibehaltung der jetzigen verwickelten und von niemand voll beherrschten Regelung mit gewissen unbedeutenden Aenderungen oder Einführung der international üblichen gemäßigten Kleinschreibung.

Nein, wir brauchen weder „unbedeutende“ Aenderungen noch die „gemäßigte“ Kleinschreibung. Die Schrift ist eine Funktion der lebendigen Sprache. Wir müssen die Bewegungen im Bereich dieser Sprachfunktion registrieren und müssen die bedeutenden Aenderungen durch befugte und berufene Körperschaften kodifizieren lassen, um die Schrift den Bedürfnissen der Zeit anzupassen. Aber dazu gehört nicht der Verzicht auf die Großschreibung, auf einen entscheidenden Vorzug unserer Schrift.

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