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Das Lesen wird gebremst

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Im Dezember 1973 beschloß die österreichische Kommission für die' Orthographiereform beim Bundesministerium für Unterricht und Kunst die Durchführung experimen-talpsychologischer Untersuchungen zur Lesbarkeit von Kleinschreibung. Die wissenschaftliche Leitung des zweijährigen Forschungsprogrammes lag in den Händen von Univ.-Ass. Dr. Erich Vanecek. Eine ausführliche Beschreibung der Experimente und ihrer Ergebnisse findet man in dem Buch von Hornung, Vanecek und Wüster: „Die Großschreibung im Kreuzverhör der Versuche“ (erschienen im österreichischen Bundesverlag). Hier eine Kurzversion:

Die Planung der Versuche war von der Absicht geleitet, den vielen Formen des Lesevorganges durch eine Vielfalt von Hypothesen und Untersuchungstechniken einigermaßen gerecht zu werden. Zu Beginn der Versuchsreihe sollte klargestellt werden, ob denn die im Deutschen mit dem großen Anfangsbuchstaben ausgezeichneten Wörter tatsächlich mehr zum Begreifen von Satzinhalt und Satzbau beitragen als die klein geschriebenen Wörter. Um den Informationswert einzelner Wörter abschätzen zu können, mußten 300 Versuchspersonen aus dem Text entfernte Wörter erraten, Texte durch Wegstreichen von „überflüssigen“ Wörtern in knappe, doch verständli-

che Telegramme verwandeln und schließlich die subjektiv wichtig erscheinenden Wörter ausgewählter Texte anzeichnen.

In allen drei Verfahren zeigte sich ein wesentlich höherer Informationswert des groß geschriebenen Wortes. Nach diesen Ergebnissen kann die oft angestellte Vermutung, daß die sinntragenden Elemente genau so oft oder sogar noch häufiger unter den klein geschriebenen Wörtern zu finden wären, eindeutig widerlegt werden.

Im zweiten Versuchsabschnitt wurde geprüft, ob sich die Erkennbarkeit von Einzelwörtern und Silben durch die Kleinschreibung ändert 72 Personen sollten in Einzelversuchen bestimmte Wörter aus unzusammenhängenden Wortlisten möglichst schnell herausfinden. Die Listen wurden einmal in Großschreibung und einmal in Kleinschreibung vorgegeben.

Um dem Einwand bezüglich der unvertrauten Kleinschreibung von Hauptwörtern zu begegnen, kamen Wörter in die Listen, welche im Deutschen sowohl in Klein- als auch in Großschreibung geläufig sind, also etwa „Mitten“ und „mitten“ oder „Gewinne“ und „gewinne“. Durch die Kleinschreibung ergab sich eine Verminderung der Suchgeschwindigkeit von rund acht Prozent.

Im1 dritten Versuchsabschnitt wurde die Lesegeschwindigkeit im stillen, sinnverstehenden Lesen gemessen. Dazu mußte erst ein deutschsprachiges Testmaterial nach einem Vorschlag des amerikanischen Leseforschers Miles Tinker entwik-kelt werden. Vereinfacht ausgedrückt, handelt es sich dabei um das möglichst rasche Aufsuchen und Anstreichen von sinnstörenden Wörtern in Lesepassagen. Das falsche Wort kann aber nur als solches erkannt werden, wenn der vorangegangene Text verstanden worden ist. Aus der Zahl richtig bearbeiteter Testaufgaben kann auf das Lesetempo geschlossen werden.

Die Ergebnisse waren eindeutig: bei freier Tempowahl des Lesers waren keine systematischen Auswirkungen von Groß- und Kleinschreibung zu erkennen. Zunehmender Zeitdruck bewirkte jedoch eine signifikante Verlangsamung der Lesegeschwindigkeit bis zu 7,5% zu Lasten der Kleinschreibung im Vergleich mit der herkömmlichen Schreibung.

Nach Untersuchungsergebnissen können Beeinträchtigungen durch Kleinschreibung dann erwartet werden, wenn der Leser rasch Informationen in Texten suchen will oder leichte bis mittelschwere Texte zügig durchzulesen hat.

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