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Digital In Arbeit

Barbarisches Rechtschreibreförmchen

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Befreit die Bechtschreibreform tatsächlich vom Ballast unlogischer und komplizierter Begeln? Und was nützt sie überhaupt den Hauptadressaten, den lernenden Kindern?

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Befreit die Bechtschreibreform tatsächlich vom Ballast unlogischer und komplizierter Begeln? Und was nützt sie überhaupt den Hauptadressaten, den lernenden Kindern?

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Was hat die, von vielen als „Reförmchen” und vom bayrischen Kultusminister gar vor ihrer Einführung noch als „Barbarei an der deutschen Sprache” bezeichnete Beform eigentlich bisher gebracht? Was außer Umsatzsteigerungen bei Wörterbüchern, Neuauflagen bei Schulbüchern, Umschu-lungskursen für lehrer; was außer einer Flut von Protesten, erst kürzlich erneut vorgebracht von prominenten deutschen Autoren.

Vor allem- was hat sie denn unseren Kindern gebracht?

Wer dieser Frage nachgeht, wird feststellen müssen, daß die Beform bisher zuwenig an dem gemessen wird, was sie den primären Adressaten, nämlich den lernenden Kindern nützt. Kaum fragt jemand nach, ob die deutsche Rechtschreibung vom Ral-last überflüssiger, unlogischer und komplizierter Regeln tatsächlich befreit und auch wirklich für Kinder leichter erlernbar wurde. Was ist geblieben vom Bestreben, Ausnahmen auszumisten, Regeln nachvollziehbarer zu machen, der Sprachlogik zu ihrem Recht zu verhelfen? Denn eben dies waren ja die wesentlichsten Ziele einer Schar von Sprachwissenschaftlern und Ministerialbe-amten in nahezu 20jähriger Arbeit.

Von Vereinfachung ist wenig zu spüren: Die alte Rechtschreibung ist im wesentlichen die neue. Kinder, die Schwierigkeiten hatten, werden diese wohl auch künftig haben. Der von den Reformern prognostizierte gravierende Rückgang der Fehler wird nicht eintreten, wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, daß von den 12.000 Wörtern des schulischen Grundwörtschatzes bescheidene 185 geändert werden. Wer selbst schon in neuer Schreibweise gedruckte Zeitungen, wie etwa die deutsche „Woche” liest, der kann sich von der Mickrigkeit und Überflüssigkeit dieser Reform ein Bild machen: Weniger als ein halbes Prozent des Textbildes wird durch die neuen Rechtschreibregeln tatsächlich verändert.

Der Gipfel an Halbherzigkeiten ist die „Reform” des „ß”: Die Ersetzung des „ß” nach kurzen Vokalen durch „ss” wird von den Reformern als besondere Erleichterung gepriesen. Aber die Freude über die Neuregelung ist stark gedämpft.

Anstatt sich der Schweiz und internationalen Schreibgepflogenheiten anzuschließen und das „ß” zu streichen, ist, wie der Germanist Robert Saxer feststellt, eine „verwirrende Inkohärenz” entstanden. So gibt es nicht weniger als acht Gruppen von Ausnahmen, bei denen nach kurzem Vokal dennoch kein „ss” steht, sowie vier Gruppen von Ausnahmen, bei denen trotz Unbetontheit des Vokals ein nachfolgender Konsonant verdoppelt wird. Auch das auf den ersten Blick liberale Zulassen mehrerer Varianten im Bereich der Fremdwörter und der Groß- und Kleinschreibung sowie der Getrennt- und Zusammenschreibung erweist sich als Schülerfalle. Vieles ist, so der Erlanger Linguist Theodor Ick -ler in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” dazu angetan, den Lernstoff der Schüler zu vervielfachen.

Enttäuschend

Aus kinderpsychologischer Sicht ist zu befürchten, daß die Rechtschreibreform nicht einmal ansatzweise dazu beiträgt, den hohen Prozentsatz an sogenannten

„Legasthenikern” in den Grundschulen (zehn bis 20 Prozent) zu senken und die Zahl jener meist begabten, unglücklichen Kinder zu vermindern, die in unzähligen Stunden gewaltige Potentiale an Lernenergie allein in die Rechtschreibung investieren, ohne jemals besonders erfolgreich zu sein. Nur weil sie ein paar Fehler mehr als ihre Mitschüler machen, sind sogar sehr begabte Kinder oft vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen. Tatsächliche Reformen im Bereich der Rechtschreibung könnten jenen weit verbreiteten pädagogischen Reflex vieler Deutschlehrer durchbrechen, wonach allein die Zahl der Rechtschreibfehler -quasi automatisch - zu Negativbeno-tung im gesamten Fach Deutsch führt, dies trotz inhaltlich-stilistisch sowie grammatikalisch einwandfreier Schularbeiten.

Aber, wie schon ausgeführt, die bisher wahrnehmbaren Auswirkungen der „Reform” auf die Kinder sind enttäuschend. Was Einschulenden vielleicht eine Spur von Vereinfachung bringt, das wird - zumindest in der Übergangsphase - alle anderen Schüler nur zusätzlich verwirren. Mit der Umsetzung der peripheren Neuerungen tritt für viele ein Moment der Verunsicherung auf, eine ganze Schülergeneration wird über unnötige zusätzliche Fehlerquellen fluchen. Denn sie muß zwischen richtigen, falschen, nur noch bis zum Jahr 2005 richtigen und danach falschen, alternativen und auszuprobierenden Schreibweisen unterscheiden.

Selbst dann, wenn Kinder künftig ein paar Fehlerchen weniger machen, ändert die Mini-Reform nichts daran, daß die Rechtschreibung weiterhin einen weit überhöhten Stellenwert im schulischen Alltag hat. Sie bringt weder die unberechtigten, durch keine seriöse Untersuchung zu belegenden Klagen über die nachlassenden Rechtschreibleistungen der Schuljugend zum Verstummen, noch führt sie dazu, die Wertigkeiten im Deutschunterricht zu überdenken: Es wird weiterhin zweifelhaftes Verdienst einer zu einseitigen Rechtschreiberziehung bleiben, den Reichtum sprachlichen Ausdrucks und schriftlichen Gestaltungsmutes vieler Kinder zum Versiegen zu bringen! Die inhaltlich dürren, aus Angst vor Rechtschreibfehlern jeglicher sprachlichen Kreativität entbehrenden, fehlerlos-schön geschriebenen Aufsätzchen werden weiterhin Qualitätsmerkmal einer falsch verstandenen Spracherziehung bleiben.

Überhöhte Bedeutung

Ich möchte aber nicht falsch verstanden werden: Die Rechtschreiberziehung hat ihren Platz in der Schule. Es muß eine der zentralen Aufgaben der Grundschule sein, den Kindern grundlegende Kulturtechniken und damit orthographische Normen zu vermitteln. Wenn aber schon an der Rechtschreibung jahrzehntelang herumreformiert wurde, dann hätte man doch wirklich einen Beitrag erwarten können, der Kindern spürbare Erleichterung bringt. Die Lern- und Energiepotentiale vieler Schuljahre hätten dann für wichtige andere Schul- und Bildungsqualifikationen frei werden können, anstatt sie einseitig in das Erlernen der Rechtschreibung zu kanalisieren. In Zeiten computerunterstützter Textverarbeitung hätte das möglicherweise auch dazu beitragen können, daß nicht die Anzahl der Rechtschreibfehler weiterhin eines der zentralen schulisch-gesellschaftlichen Se-lektions- und Zuteilungskriterien bleibt. Angesichts der Mickrigkeit der Reform hört sich das, was Kommissionsvorsitzender August als Schülertrost und Eltern- beziehungsweise I .ehrerermutigung parat hat, geradezu zynisch an. „Wenn die Rechtschreibung mit und ohne Reform schon nicht leicht zu lernen ist, dann soll(te) das Lernen wenigstens Spaß machen” und die späteren Erwachsenen „sollten sich nicht an die traumatischen Ängste des Diktatschreibens erinnern, sondern daran, welche Freude es gemacht hat...” (Grundschule, 4/1996). - Wo die Reform nichts leistet, soll offensichtlich die Spaßschule Mängel kompensieren!

Profit für die Schüler

Aber wahrscheinlich ist es in der gegenwärtig ablaufenden Reformkomödie so, wie auch sonst oft beim Lernen in der Schule: Nicht selten profitieren Kinder und Jugendliche weniger vom intendierten didaktischen Vorhaben als vom „heimlichen Lehrplan”, nach dem das Vorhaben abläuft. Ganz in diesem Sinn wäre zu wünschen, daß möglichst viele Lehrer und ihre Schüler sehr bald den Widerspruch realisieren, der zwischen der Geringfügigkeit der Änderungen und der groß herausgestellten Behauptung besteht, die Beform sei nicht nur wichtig und längst überfällig und dürfe keinesfalls scheitern.

Es ist zu wünschen, daß sich für die Schüler künftig - wenn schon nicht durch das neue Regelwerk selbst, dann doch wenigstens durch seine Folgeeffekte, wahrnehmbare Erleichterungen ergeben. Denn, was die Reform nicht einmal im Ansatz geschafft hat, kann jetzt nur noch auf andere Weise erreicht werden: durch vorurteilsloses Hinterfragen der einseitigen Überbewertung der Rechtschreibung. Dabei müßte man ja nicht gleich so weit gehen wie Martin Walser, der im „Spiegel”-Interview dazu meinte: „Rechtschreibnormen sind Zentralismusblüten, Haupteffekt: Fehlerproduktion. Soll doch jeder, auf eigenes Risiko, schreiben wie er will ...”

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