Bücher - Deutschmatura - © Andrea Piacquadio / Pexels

Zentralmatura: Ist das tatsächlich reifes Deutsch?

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Am 9. Mai beginnt wieder die Zentralmatura - mit dem Fach Deutsch. Was uns erwartet? "Textsorten" und "Teilkompetenzen", wenig Literatur und große Rechtschreib-Toleranz. Ein Gastkommentar.

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Am 9. Mai beginnt wieder die Zentralmatura - mit dem Fach Deutsch. Was uns erwartet? "Textsorten" und "Teilkompetenzen", wenig Literatur und große Rechtschreib-Toleranz. Ein Gastkommentar.

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Es gibt gute Argumente für eine zentrale Reifeprüfung, es gibt nach wie vor auch gute Argumente dagegen, besonders wenn es um das Fach Deutsch geht. Aber die Grundsatzdiskussion liegt mittlerweile hinter uns. Die "standardisierte, kompetenzorientierte Reifeprüfung" ist nicht nur Gesetz, sondern auch Praxis geworden. Dass sie in absehbarer Zeit wieder abgeschafft werden könnte, ist unwahrscheinlich. Allzu groß war die Freude der Verantwortlichen darüber, dass beim ersten flächendeckenden Durchgang im Schuljahr 2014/15 nichts Schlimmes passiert ist und nur ein sehr kleiner Prozentsatz der AHS-Maturantinnen und -Maturanten ein Nicht genügend verkraften musste. Im Fach Deutsch waren es nicht einmal vier Prozent (vor den Kompensationsprüfungen, Anm.). Solche Zahlen machen die heimische Bildungspolitik glücklich. Quote gut, alles gut. Matura für alle! Wer aber nicht in Quoten, sondern in Qualitäten denkt, kann mit dieser Deutsch-Matura nicht restlos zufrieden sein. Dazu einige Überlegungen.

Alle Maturanten müssen auf neun Textsorten vorbereitet werden: von der klassischen Erörterung über die Meinungsrede bis hin zu angeblich "lebensnahen" Textsorten wie offener Brief und Empfehlung. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass die Textsorten Zusammenfassung und Leserbrief aufgrund ihrer besonderen Funktion nur bedingt maturatauglich sind. Die Textsorte offener Brief ist in der Schreibrealität eine Seltenheit. Maturaaufgaben zu offenen Briefen geben daher notgedrungen ziemlich konstruierte Schreibsituationen vor, hart an der Grenze zum Grotesken.

Der Zwang, zu jedem Schreibauftrag eine Handlungssituation vorzugeben, mag gut gemeint sein (Stichwort schriftliche Kommunikationskompetenz!). Bei manchen Schreibaufträgen ist das zweckgemäß, aber bei vielen anderen führt sie zu teils krampfhaften, teils stereotypen Formulierungen, die im besseren Fall verzichtbar, im schlechteren hinderlich sind. Ob die Vorgabe einer Schreibsituation passend ist, sollen die Themensteller entscheiden. Für meinen Geschmack werden sie (immerhin akademisch ausgebildete Lehrkräfte!) generell zu sehr durch formale Vorgaben entmündigt, vor allem durch den verpflichtenden "Operatorenkatalog". Unter Operatoren versteht man Verben, die Handlungsanweisungen geben (fasse zusammen, nimm Stellung, interpretiere etc.). Nach einem dreigliedrigen Schema müssen die Aufträge für Schreibhandlungen aus diesem Verben-Fundus entnommen werden. Das schränkt die Themenstellung ein, mehr aber noch den begabteren Teil der Schreibenden. Gedankliche und kompositorische Eigenständigkeit werden auf diese Weise nicht gefördert.

Objektive Beurteilung - eine Illusion

Der Beurteilungsraster für die Reifeprüfung aus Deutsch ist eine Zumutung für die Lehrkräfte. Nach 30 (in Worten "dreißig") Teilkriterien müssen Deutsch-Lehrerinnen und -Lehrer eine Maturaarbeit beurteilen. Das schaut ungeheuer präzise aus, aber man konkretisiere einmal die Trennschärfe zwischen "in elementaren Punkten weitgehend sachlich richtig"(für die Note 3) und "in zentralen Passagen durchgehend sachlich richtig"(für die Note 2). Wo der Beurteiler sein Kreuzerl macht, bleibt in vielen Punkten subjektive Ermessenssache, und das geht auch gar nicht anders, denn ein Text ist bis zu einem gewissen Grad immer etwas Individuelles und durch kein noch so komplexes Raster der irdischen Welt völlig "gerecht" beurteilbar.

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Womit wir beim nächsten Thema wären: dem Eigenwert der Literatur. Die Maturantinnen und Maturanten wählen eines von drei "Themenpaketen" mit je zwei Schreibaufgaben. Nur eines dieser Pakete muss eine Teilaufgabe zu einem literarischen Text beinhalten. Diese Marginalisierung der Literatur hat Proteste der IG Autorinnen Autoren und der universitären Literaturwissenschaft ausgelöst: zu beliebig, zu substanzlos. Ob ein Werkkanon die Grundlage der literaturbezogenen Aufgabe sein soll, darüber gehen zwar die Fach-Meinungen auseinander, aber Einigkeit sollte zumindest darüber bestehen, dass wir einen Kanon der Interpretationsmethodik brauchen, aus dem hervorgeht, welche Fachtermini Maturanten kennen und anwenden können: Erzählperspektive, innerer Monolog, Metrum etc. Wenn Themensteller wissen, worauf sie da bauen können, sind anspruchsvollere Aufgaben möglich, die nicht nur den vordergründigen Inhalt, sondern auch Sprache, Stil und ästhetische Form des literarischen Texts berücksichtigen.

Darüber hinaus würde ich die literarische Aufgabe als Einzelaufgabe stellen und nicht an eine Themenklammer binden, nicht an Operatoren und schon gar nicht an eine Schreibsituation. Die einer literarischen Aufgabe angemessene Form ist der klassische Interpretationsaufsatz. Alles andere ist Firlefanz.

Normen sind ein weites Land

Korrekte Rechtschreibung und Grammatik haben - im Vergleich zur früheren Beurteilungspraxis - nur mehr einen bescheidenen Stellenwert. Die Aufweichung der Normenstrenge ist ein Prozess, der in der österreichischen Schule schon seit einigen Jahrzehnten im Gange ist. Längst vorbei sind (glücklicherweise!) die Zeiten, in denen barsche Oberstudienräte ihr gnadenloses Beurteilungscredo in eingeschüchterte Klassen bellten: "Mehr als 9 Fehler, das ist bei mir auf alle Fälle ein Nicht genügend!"

Rechtschreib- und Grammatikfehler zählen, das geht jetzt gar nicht mehr. Denn der Blick der Lehrkraft fällt in kompetenzorientierten Zeiten, so heißt es auf der Bifie-Website, "in erster Linie darauf, was die Schülerin/der Schüler kann, nicht darauf, was sie/er nicht kann." Was das für die Beurteilung der orthografisch-grammatikalischen Kompetenz heißt, ist schwer zu sagen. Wäre man dumm oder bösartig, könnte man diese vage Richtlinie so konkretisieren: Eine Maturaarbeit besteht aus ungefähr 900 Wörtern. Sind 600 davon richtig geschrieben, beherrscht der Schüler die normgerechte Schreibung in zwei Dritteln der Fälle. 300 Fehler wären also tolerierbar.

So ist das sicher nicht gemeint. Aber wie ist es gemeint? Im Grunde ist leider alles sehr kompliziert. Sieben Kategorien der Rechtschreibung listet die Arbeitsgruppe Deutsch (die vom Bifie mit der Grundkonzeption der Reife-und Diplomprüfung in diesem Fach betraut wurde) auf: von der Laut-Buchstaben-Zuordnung über die Groß- und Kleinschreibung bis zur Schreibung gebräuchlicher Fremdwörter, und zaghaft stellt sie die Frage, ob Rechtschreibung dem Menschen überhaupt zumutbar sei. Die Arbeitsgruppe gibt nämlich zu bedenken, dass die korrekte s-ß-ss-Schreibung vielen Mitbürgern (und solchen, die es noch werden wollen) Probleme bereitet. Sie meint auch, dass Lehrkräfte Verstöße gegen die Getrennt-und Zusammenschreibung vernachlässigen sollen, wenn die Verständlichkeit dadurch nicht beeinträchtigt wird, und mit der Markierung von Langvokalen ist es im Deutschen auch ein rechtes Kreuz.

Generell erachtet die Arbeitsgruppe Normenverstöße nur dann als gravierend, wenn diese das Textverständnis beeinträchtigen oder wenn ein "Verstoß gegen grundlegende grammatische und orthografische Gesetzmäßigkeiten" vorliegt. Was sind aber grundlegende Gesetzmäßigkeiten? Satzbaufehler? Genusfehler? Wortbildungsfehler? Schwer zu sagen! Darum bietet die Arbeitsgruppe eine Problemlösung an, die ein wenig überrascht. "Der korrigierenden Lehrkraft bleibt es überlassen zu entscheiden, wann eine Kategorie als beherrscht einzuschätzen ist." So viel postmodernes anything goes hätten wir, ehrlich gesagt, bei einer Zentralmatura nun doch nicht erwartet.

Nicht für das Leben lernen wir

Resümierend kann man die These wagen, dass normengerechtes Schreiben von den Maturantinnen und Maturanten der Zukunft nicht mehr in dem Ausmaß erwartet werden kann, wie es jetzt noch der Fall ist. Legasthenie wird zum Üblichen, normengerechtes Schreiben die Ausnahme, vielleicht sogar ein Krankheitsbild. So mancher kulturbewusste Sprachhüter wird darüber entsetzt sein, aber man kann die Sache auch entspannter sehen. Noch zu Martin Luthers Zeiten gab es weder für die Flexion noch für den Satzbau verbindliche Regeln, ganz zu schweigen von einer verbindlichen Orthografie. Konrad Duden musste sich jahrelang abmühen, bis die "Orthographische Konferenz" im Jahr 1901 sein Werk endlich absegnete.

Ein Problem könnte allerdings dann entstehen, wenn die schulische Toleranz im öffentlichen Leben nicht so recht ankommt. Derzeit, so scheint es, sind wir davon noch ein gutes Stück entfernt. Ein Unternehmer sagt mir: "Wenn ich einen Geschäftsbrief erhalte, in dem drei Rechtschreibfehler sind, frage ich mich: Was ist das für eine Firma?" Und ein (seriöser) Bankdirektor beklagt sich bei mir darüber, dass Bewerberinnen um eine Lehrstelle nicht einmal "das Elementare" beherrschen. - Das Elementare, was ist das? - Na, korrekte Rechtschreibung! - Aha, das versteht er unter "elementar", und ich dachte, es ginge um Handlungs- und Kommunikationskompetenz im Allgemeinen. Nicht für das Leben, für die standardisierte, kompetenzorientierte Reifeprüfung lernen wir! Das wird man den Menschen da draußen endlich einmal sagen müssen.

Der Autor ist Direktor des Georg von Peuerbach-Gymnasiums in Linz, Germanist, Literaturkritiker und Autor (Blog).

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