Schule in Athen - © Foto: IMAGO / imagebroker

Die Matura als Schein

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Rund 42.000 junge Menschen befinden sich in der zweiten Woche der standardisierten Reifeprüfung. Wird Österreichs höchster Schulabschluss überbewertet? Eine Einordnung.

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Rund 42.000 junge Menschen befinden sich in der zweiten Woche der standardisierten Reifeprüfung. Wird Österreichs höchster Schulabschluss überbewertet? Eine Einordnung.

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Einer der bekanntesten Selbstmörder in der österreichischen Literaturgeschichte ist wohl Friedrich Torbergs Schüler Gerber, der kurz vor Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse aus dem Fenster springt und so nicht mehr erfährt, dass er die Matura bestanden hätte. Seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es zahllose, wenn auch meist weniger drastische Beispiele, in denen das Leiden in und an der Reifeprüfung beschrieben wurde. Gleichzeitig wurde wie von Thomas Mann der Sinn einer „tagelange(n) Schraubmarter“ infrage gestellt, „in der junge Leute, unter Anwendung schlafvertreibender Mittel, sich als wandelnde Enzyklopädien erweisen müssen“.

Erfunden hatten diese Tortur die Preußen. 1788 wurde dort die Reifeprüfung als Antwort auf den vermeintlichen Zustrom ungeeigneter Studierender eingeführt: „Es ist bisher vielfältig bemerkt worden, dass so viele zum Studieren bestimmte Jünglinge ohne gründliche Vorbereitung unreif und unwissend zur Universität eilen, wodurch selbige nicht nur sich selbst schaden, und sich selbst die gehörige Benutzung des akademischen Unterrichts schwer, ja oft unmöglich machen.“ Das würde zudem „… verursachen, dass viele Ämter, zu denen gründliche Kenntnisse erforderlich sind, wo nicht mit unwissenden, doch mit seichten und unzweckmäßigen Subjekten besetzt werden.“ Von da ab dauerte es noch gut einhundert Jahre, bis sich eigenständige Reifeprüfungen in weiten Teilen Europas als Regelabschluss höherer Bildung durchgesetzt hatten.

Prüfung zur Konkurrenz-Abwehr

Dieser Erfolg wäre ohne den schrittweisen Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft nicht denkbar gewesen. In ihr soll ja zumindest offiziell Leistung statt – wie bis dahin – Abstammung ausschlaggebend für gesellschaftlichen Erfolg sein. Nicht nur der Hochschulzugang, sondern auch andere Ausbildungsgänge, Beamtenlaufbahnen und Berufskarrieren wurden dementsprechend an die Ablegung „meritierender“ Prüfungen gebunden, die zur jeweils nächsten Etappe berechtigten.

Dadurch ließ sich unliebsame Konkurrenz abwehren und zugleich der Anschein erwecken, der Zugang zu höheren Weihen stünde allen gleichermaßen offen, so sie nur die Zugangsvoraussetzungen erfüllten.

Deshalb hat seit Mitte des 19. Jahrhunderts jede Verschärfung der Konkurrenz am Arbeitsmarkt umgehend Zweifel ausgelöst, ob denn die Anforderungen in den Berechtigungsprüfungen hoch genug wären. Noch intensiver wurde diese Debatte mit der Massenexpansion des höheren Schulwesens seit den 1960er Jahren.

Wenn mehr als die Hälfte eines Jahrgangs die Reifeprüfung meistert: Was ist sie dann noch wert? Seitdem vergeht zumindest in Österreich keine Legislaturperiode, ohne dass an den Einzelheiten dieses Übergangsmechanismus herumgeschraubt wird, mal um vorgeblich Qualität zu sichern, mal um Chancen auszugleichen.

Dabei gab und gibt es keinerlei Forschung, die belegen könnte, dass das bei diesen Prüfungen eingeforderte „enzyklopädische“ Wissen tatsächlich für die nachfolgenden Aufgaben erforderlich wäre. Implizit wird diese Annahme auch davon widerlegt, dass eine bestandene Matura hierzulande, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Zugang zu allen Studienangeboten gewährt, also auch zu solchen Inhalten, die man in der Schule nicht sonderlich gut bewältigt hatte.

Auf den Studienerfolg hat das wenig Einfluss. Berücksichtigt man zudem, dass heutzutage in Österreich fast alle, die zur Matura antreten, die auch irgendwie bestehen, erscheint die Angst eines Schüler Gerber oder der Spott eines Thomas Mann übertrieben.

In den meisten Bildungssystemen dieser Welt gestaltet sich der Übergang ungleich schwieriger. Die größten Hürden errichten die Länder, in denen der erfolgreiche Schulabschluss nur Voraussetzung zur Zulassung zu weiteren Prüfungen oder Wettbewerben ist. In weiten Teilen Asiens entscheidet der relative Erfolg in streng normierten landesweiten Tests über die Zugangschancen zu Hochschulen und Berufslaufbahnen. Wer bei diesen Tests schlecht abschneidet, hat kaum eine Chance, einen der begehrteren Studien- oder Ausbildungsplätze zu ergattern. Da wird tatsächlich über Lebenswege entschieden.

Ähnlich ist die Situation in den Systemen, in denen der Schulabschluss nur die Voraussetzung ist, um an einschlägigen Zulassungswettbewerben teilzunehmen (wie in Frankreich) oder die letzte Entscheidung bei den aufnehmenden Instanzen liegt, die zusätzliche Nachweise in Form standardisierter Tests oder individueller Leistungen verlangen können (wie in den meisten angelsächsischen Ländern).

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