Das lange Warten auf Inklusion

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Das neue Schuljahr bringt für die Pflichtschule neue Lehrpläne. Jene für die Sonderschule wurden für 2025/26 angekündigt. Bildungsaktivisten sehen darin grobe Versäumnisse und orten im Gastkommentar Diskriminierung mit System.

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Das neue Schuljahr bringt für die Pflichtschule neue Lehrpläne. Jene für die Sonderschule wurden für 2025/26 angekündigt. Bildungsaktivisten sehen darin grobe Versäumnisse und orten im Gastkommentar Diskriminierung mit System.

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Seit mehr als 15 Jahren müssen Artikel zum Zustand der Inklusion in Österreich mit dem Hinweis beginnen, dass Österreich 2008 beschlossen hat, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Wesentlicher Punkt dieses internationalen Vertrags ist es, „ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen“ zu schaffen, in dem alle Schüler(innen) „gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben“, lernen können.

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Vorsorglich wurden 2014 neue Curricula für das Lehramt eingeführt, die für eine solche Schule vorbereiten sollen. Seitdem heißt es jedoch, warten, denn in all dieser Zeit bewegte sich die alte segregierte und segregierende Schule keinen Millimeter. In den letzten Jahren, so stellte der Monitoring-Ausschuss unlängst fest, müssen wir sogar gravierende Rückschritte hinnehmen. An positive Maßnahmen knüpfte der 2021 beschlossene „Nationale Aktionsplan Behinderung“ nicht an, dafür werden schwammige Kennzahlen ohne zu erkennende Zahlen definiert.

Zwei Beispiele: Mit dem Schuljahr 2018/19 wurden Deutschförderklassen eingeführt. Seitdem müssen in der Regel vorwiegend Kindergartenkinder mit vermeintlich nichtösterreichischer Herkunft vor der Einschulung das „Messinstrument zur Kompetenzanalyse – Deutsch“ (MIKA D) bestehen.

Dieses soll messen, ob ein Kind dem deutschsprachigen Unterricht folgen können wird. Ohne an das vorhandene Wissen zu Diagnoseinstrumenten anzuknüpfen, hat der damalige Minister Faßmann einen Test entwickeln lassen, der weniger das Sprachverständnis als die Syntax der deutschen Grammatik misst. Wie sehr das Verstehen eines Satzes jedoch an der richtigen Verbplatzierung hängt? Jeder selbst darf entscheiden.

Im Alltag herrscht noch immer Exklusion

Bescheinigt dieser mangelhafte Test acht eingeschüchterten Kindern an einer Schule „mangelhafte“ Deutschkenntnisse, werden diese vom Regelunterricht ausgeschlossen, segregiert und exkludiert. Zum motivierten Aufspüren der Mangelhaftigkeit wurde die finanzielle Unterstützung zur Sprachförderung an den Misserfolg beim Test gekoppelt. In diesen Klassen pauken dann Schüler(innen) die Syntax des Deutschen, schließlich gilt es, den nächsten MIKA-D-Test zu bestehen.

Wer nach zwei Jahren noch immer „mangelhaft“ ist, darf dann in die Regelschule übergehen, Deutschförderung wird dann jedoch keine mehr finanziert. Bereits vor der Einführung haben viele Expert(inn)en auf „Othering“ und Ausschluss hingewiesen, und auf die lerntheoretischen wie pädagogischen Nachteile dieser Aussonderungsveranstaltungen. Mit Stefan Hopmann darf dies getrost stupid public policy genannt werden oder noch schlimmer: rassistische Diskriminierung.

Schön, dass Expertinnen und Experten gefragt wurden. Bei den nun beschlossenen Lehrplänen sind ihre Vorschläge aber an keiner Stelle zu finden. Inklusiv ist an diesen wenig.

Das zweite Beispiel: Am 17. Juni 2021 wurde im österreichischen Parlament ein Entschließungsantrag von allen fünf Parteien für neue kompetenzorientierte Lehrpläne zur Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS) beschlossen. Die Freude war groß, denn der zwölf Lernjahre umfassende alte Sonderschullehrplan war lediglich für den kleineren Personenkreis tauber Schülerinnen und Schüler entwickelt worden. Dieser bevorzugte die ÖGS als Erstsprache in der Kommunikation.

Ausgeschlossen hat dieser schwerhörige bzw. hörende Schülerinnen und Schüler, deren Eltern zum Beispiel taub sind. Der Entschließungsantrag sah vor, dass das Bildungsministerium bis zum Schuljahr 2023/24 einen bedarfsgerechten Lehrplan zu ÖGS unter Einbindung von Expert(inn)en festlegt. Eine Zeitlang ist es dann still um die Lehrpläne geworden.

In diesem Schuljahr durften der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) und Verena Krausneker von der Universität Wien eine Stellungnahme für das Bundesministerium schreiben. Aufmerksame Beobachter(innen) der österreichischen Politik wissen allerdings schon, was jetzt kommt: schön, dass Expert(inn)en gefragt wurden.

Bei den nun beschlossenen Lehrplänen sind ihre Vorschläge aber an keiner Stelle zu finden. Inklusiv ist an diesen wenig, und das, obwohl dasselbe Bildungsministerium nun seit mittlerweile sechs Jahren eine Gleichstellung der ÖGS mit allen anderen Sprachen versprochen hat. Die Lehrpläne wären eine wichtige Voraussetzung für eine inklusive Bildung tauber und hörbehinderter Schüler(innen).

Um die Exklusion für die nächsten Jahre zu verfestigen und die nachrangige Wichtigkeit noch einmal zu unterstreichen, wurden modernisierte Sonderschullehrpläne nun auf 2025/26 verschoben. Ohne die Verbreitung von ÖGS bleiben hörbehinderte und taube Menschen kommunikativ segregiert und exkludiert. Freundschaften mit nicht ÖGS-Sprechenden zu schließen, bleibt schwierig.

Analog zum ersten Beispiel kann so eine Politik nur fähigkeitsorientierte Diskriminierung genannt werden. So eine Politik des „Normalismus“ separiert und exkludiert Menschen. Einer solidarischen Gemeinschaft ist sie nicht zuträglich. Zuträglich wären die nächsten Schritte auf dem Weg zur Inklusion. Zurzeit beschreitet lediglich ein zivilgesellschaftliches Bündnis aus Bildungsarbeiter(inne)n und Inklusionsaktivist(inn)en diesen Weg.

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