Die ganz normale Vielfalt

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BILDUNG • Österreich diskutiert über die Abschaffung der Sonderschule. Italien hat das schon hinter sich. Was können wir davon lernen? Ein Besuch.

Es riecht nach spröden Gummimatten, gedribbelte Bälle beschallen den Raum, und das grelle Licht zeichnet lange Schatten - zumindest das Turnsaal-Ambiente ist vertraut. Abgesehen davon ist in der Turnstunde am Meraner Gymnasium aber vieles anders. Mädchen und Burschen sporteln hier bis zur Matura gemeinsam. Und mitten unter ihnen ist Thomas. Er ist 15, wie die anderen, aber nicht so weit wie sie. Seine verwaschene Sprache ist für ungeübte Ohren schwer verständlich. Während die anderen in Teams durch den Saal sprinten, hüpft er an der Seitenlinie auf und ab und klatscht. Manchmal galoppiert er quer durch den Raum. Thomas lacht viel und wirft gerne Bälle. Das weiß die ganze Klasse. Deshalb passen seine Mitschüler oft zu ihm. Obwohl es mit dem Fangen nicht immer klappt.

Seit 35 Jahren hat Italien ein inklusives Schulsystem. Sonderschulen gibt es keine. Jede Schule, auch ein Gymnasium, muss jedes Kind aufnehmen - egal, wie beeinträchtigt es ist. In den 1970er Jahren stieß das in Südtirol auf wenig Begeisterung. Wie soll das funktionieren, fragte man sich, dass Hochbegabte und geistig Behinderte in der selben Klasse unterrichtet werden? Bleibt dabei nicht zumindest eine Gruppe auf der Strecke? Heute stellt niemand mehr diese Fragen. Inklusion gehört hier längst zum Alltag.

"Die Schüler sind es von der ersten Klasse an gewohnt, dass auch Kinder mit Funktionsdiagnose in der Klasse sitzen“, erklärt Josef Hirmer, der stellvertretende Direktor des Meraner Gymnasiums, bei einer Bildungsreise der Grünen Behindertensprecherin Helene Jarmer, auf der die FURCHE sie begleitete. Doch der Weg zu dieser Selbstverständlichkeit war steinig, erinnert sich Hirmer: "Es muss ein Verständnis entwickelt werden, dass wir alle anders sind. Und jeder seinen Platz hat.“ Von den gut 1000 Schülern in seiner Schule haben 45 eine Diagnose. Bei manchen ist das eine einfache Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche. Ein Mädchen sitzt im Rollstuhl und kann nur die Arme bewegen. Bei anderen - wie Thomas - lautet die Diagnose: "schwere Intelligenzminderung.“

Ein Recht auf langsames Lernen

Lesen oder Schreiben wird er nie lernen. Dass er trotzdem ins Gymnasium gehen kann, liegt auch an Manuel. Der 33-Jährige ist "Mitarbeiter für Integration“ und jede Woche 22 Stunden für Thomas da. Er zählt Holzkugeln mit ihm, während die Klasse am Pascalschen Dreieck kiefelt. Er geht mit ihm aus der Klasse, wenn Thomas unruhig wird. Und er hält seine Hand, wenn Thomas über den Hindernisparcour im Turnsaal klettert. Allen Schülern, bei denen der Schulpsychologe Bedarf sieht, wird ein Manuel zur Seite gestellt. Manche sind nur wenige Stunden dabei, andere die ganze Schulwoche.

Schüler wie Thomas werden "zieldifferent“ unterrichtet. Zu Jahresbeginn erarbeiten Lehrer und Eltern gemeinsam einen Erziehungsplan. Was soll in diesem Jahr erreicht werden? In welchem Fach sollen welche Fortschritte bemerkbar sein? Zum Schulschluss bekommen sie kein Zeugnis, sondern eine Kompetenzbeschreibung

Schüler mit schwächeren Diagnosen schließen die Klasse regulär ab und müssen dafür die Leistung erbringen, die der Lehrplan vorschreibt. Um das zu erreichen, bekommen sie aber rechtlich dokumentierte Erleichterungen: Mehr Zeit bei der Schularbeit, die Erlaubnis, ein Wörterbuch zu benutzen oder Visualisierungshilfen. Sie haben ein Recht auf langsames Lernen.

Inklusion heißt, dass alle Menschen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Auch Österreich hat sich dazu verpflichtet, genau das im Bildungssystem zu gewähren: Vor fünf Jahren wurde feierlich die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen unterschrieben. Sehr viel mehr ist seither aber nicht geschehen. 20 Jahre ist es her, dass Eltern entscheiden können, ob ihr behindertes Kind in der Volksschule in einer Sonderschule oder einer Integrationsklasse unterrichtet wird. Später wurde die Wahlmöglichkeit auf die Hauptschule und die AHS-Unterstufe ausgeweitet. Nach der Pflichtschule ist die Schulzeit für behinderte Kinder aber vorbei. Thomas dürfte, würde er in Österreich leben, jetzt nicht mehr in die Schule gehen.

50.000 Euro für Schulumbau

Im Vorzeige-Land Italien wird für das selbstverständliche Inklusions-Ziel auch ziemlich viel Geld in die Hand genommen. Das beweist die Schule in Deutschnofen, die auch zeigt, dass Inklusion nicht nur in großen Städten wie Meran zum Alltag gehört. Viele Serpentinen kämpfen sich in das Bergdorf, in dem nicht einmal 4000 Menschen leben. 145 Kinder besuchen die gemeinsame Mittelschule. Als vor zwei Jahren gleich zwei geistig schwer behinderte Burschen angemeldet wurden, nahm das ganze Schulteam die Herausforderung an. Und die Gemeinde: 50.000 Euro investierte sie, damit das Gebäude über den Sommer nach den Bedürfnissen der beiden Buben umgebaut wurde.

Davon profitiert der 15-Jährige Samuel. Dem Unterricht wird er nie folgen können, doch das ist nicht das Ziel. "Es geht darum, Gleichaltrige zu erleben und im Dorf integriert zu sein“, erklärt die Schulleiterin Maria Tiefenbacher. Natürlich ist er auch in der Mathematikstunde dabei. Die anderen üben Prozentrechnungen, Samuel spaziert durch die Sitzreihen. Wenn er den roten Plastik-ring, mit dem er spielt, fallen lässt, hebt ihn ein Mitschüler auf. Und versinkt gleich wieder in seinen Mathematikbeispielen. Ablenken lässt sich die Klasse nicht von Samuel. Hier stört er niemanden. "Das spürt er selbst auch“, weiß Carolin, seine Integrations-Mitarbeiterin, "wenn er in der Klasse ist, blüht er richtig auf.“ Die Entwicklung geht langsam, aber sie lässt sich klar festmachen: "Er kann seine Gefühle besser zum Ausdruck bringen als vor einem Jahr und geht viel offener auf andere Menschen zu.“

Auch die anderen Schüler profitieren, wenn ein Integrationsschüler in der Klasse ist, meint die Direktorin: "Sie erleben Behinderung als etwas Selbstverständliches, lernen damit umzugehen und entwickeln hohe soziale Kompetenz“, meint die Direktorin.

Selbstverständlich ist der Umgang mit behinderten Schülern auch für die Lehrer. Obwohl er nicht immer einfach ist. Ein Integrationspädagoge, ist nur ein paar Stunden in der Klasse und hilft bei der Abstimmung des Lehrplans. Aber Inklusion zu leben ist die Aufgabe von allen Lehrern. Dabei ist das sonderpädagogische Spezialwissen der Lehrer in Italien nicht besonders tief: In der Ausbildung absolvieren Lehrer nur ein kurzes Aufbaustudium für sämtliche Behinderungen.

Das Reform der Lehrerausbildung sieht ein ähnliches Modell auch in Österreich vor. Kritiker befürchten, dass behinderte Schüler dadurch vernachlässigt werden könnten. Tatsächlich werden Samuel und Thomas in ihren Schulen wahrscheinlich nicht optimal gefördert. Logopäden, Bewegungstherapeuten oder gar ein Schwimmbad, wie es manche Sonderschulen haben, gibt es hier nicht. Dafür lernt Samuel mit seinen Nachbarskindern und Thomas sportelt im gro-ßen Turnsaal. Mit Gleichaltrigen, und ganz selbstverständlich.

Inklusion in Österreich

Kaum Fortschritte

2008 hat Österreich die UN-Konvention über Rechte von Menschen mit Behinderung unterzeichnet. Doch die Zahl der gemeldeten Diskriminierungen bei der Behindertenanwaltschaft ist seit 2006 konstant geblieben. Auch bei der inklusiven Bildung ist wenig weitergegangen.

Steigender Bedarf

Nur rund 50 Prozent der Schüler mit Behinderung gehen in Österreich in eine Regelschule. Der Rest - rund 13.635 Kinder - besucht Sonderschulen. Die Zahl der Schüler, bei denen sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wird, ist seit den 1990ern stark gestiegen.

Strittiges Thema

Die Behindertensprecher Franz-Joseph Huainigg (ÖVP) und Helene Jarmer (Grüne) sowie mehrere NGOs fordern seit langem die Abschaffung der Sonderschule und forcieren inklusiven Unterricht. Die SPÖ tritt für ein Doppelsystem aus Regel- und Sonderschulen ein.

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