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Sprechende Zahlen

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Audi der letzte Krieg mit seinen verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen vermochte es nicht, den gesunden Optimismus der österreichischen Jugend zu vernichten. Kaum waren die Tore der Hochschulen wieder geöffnet, setzte ein Zustrom von Studierenden ein, die entweder das nachholen wollten, was sie in den Kriegsjahren versäumt hatten, oder die, unbeschwert von allen Berechnungen, die ersten Schritte zu akademischen Laufbahnen unternahmen. Während 1937 an den 14 österreichischen Hochschulen 2215 Lehrkräfte ihr Wissen 17.362 Hörern vermittelten, sind es derzeit 35.381 Studenten und 2384 Professoren. Die Zahl der Inskribierten ist mithin um 104, die der Vortragenden jedoch nur um etwa 8 Prozent gestiegen. Besser kann die Überfüllung der Hochschulen nicht dokumentiert werden, aber auch nicht die Mehrarbeit, welche die Lehrkräfte heute zu bewältigen haben.

Österreich hatte schon immer einen Akademikerüberschuß, der mit zur Prägung des Begriffs „Geistiges Proletariat" geführt hat. Nach einem aufschlußreichen Bericht des „österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung“ entfiel in der Vorkriegszeit ein Student auf 260 Einwohner, während das europäische Mittel bei 600 lag. So kam es, daß zum Beispiel 100.000 Einwohner von 109 Ärzten und ihre juristischen Interessen von 79 Rechtsanwälten betreut wurden; hingegen standen in Deutschland nur 78 Ärzte und 28 Advokaten zur Verfügung. Derzeit zählt man 57.800 Personen mit folgendem akademischem Betätigungsfeld:

Bei der Annahme, daß die durchschnittliche Tätigkeitsdauer eines Akademikers 33 Jahre beträgt,, ergibt sich ein jährlicher Nachwuchsbedarf von 1750 Studierten; tatsächlich verlassen aber jährlich 3670 Hochschüler die Universitäten, Techniken und Akademien, so daß wahrlich nicht jeder Absolvent Aussichten hat, nach seinem Studium irgendwo unterzukommen. Daß nicht immer die Tüchtigsten dieses gute Los ziehen und daß Protektion und sehr personal bedingte Einflüsse sehr oft Unfähige emporbringen, ist eine schwerwiegende Tatsache, mit der jeder Hochschüler zu rechnen hat.

Das Existenzproblem der zukünftigen Vollakademiker beschäftigt schon seit langem die verantwortlichen Stellen. Man dachte bereits an die Einführung eines Numerus clausus, ging aber von diesem Plan ab, da bei seiner Durchführung die Gefahr besteht, daß gerade Würdige vom Hochschulbesuch ausgeschlossen werden. Eine Verlängerung der Studienzeit, die durchschnittlich vier Jahre beträgt und die dem Staate für jeden Studierenden rund 3000 Schilling kostet, kommt kaum in Betracht; schon jetzt bereiten diese vier Jahre dem Hochschüler, beziehungsweise seinen Eltern große finanzielle Schwierigkeiten. Der geringste Teil kommt aus vermögenden Kreisen, wie man aus einer Zusammenstellung der Technischen Hochschule in Graz ersehen kann; von 1722 Hörem des letzten Wintersemesters gehörten an:

Der Vorschlag des „österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung“, in der Privatwirtschaft auch dort Akademiker zu beschäftigen, wo bisher ein Hochschulstudium nicht verlangt wurde, ist nicht ganz zweckmäßig, da diese Stellen nicht besser honoriert würden und diejenigen, die sich keine Hochschule leisten konnten absolvierte Mittelschüler in ihrem Fortkommen gefährdet wären. Hingegen ist der Vorschlag des Instituts zu begrüßen, gleich, nach dem ersten Studienjahr eine rigorose Auslese zu treffen; so würde der Unbegabte oder „Auchstudent“ ausgeschieden, wobei er nur ein Jahr verliert, während bei dem zwecklosen „Mitschleppen“ vier Jahre verlorengehen können. Im übrigen sollte diese Auslese schon in den Mittelschulen einsetzen. Österreich besitzt 158 derartige Anstalten, die von 49.000 Schülern besucht werden, von denen pro Jahr rund 3200 das Maturazeugnis erhalten, ein ansehnlicher Teil wendet sich dann Hochschulstudien zu.

Derzeit wird immer noch in erster Linie, zumal von den männlichen Inskribierten, das Medizinstudium bevorzugt; 25 Prozent haben sich hiefür entschieden, obwohl es bereits um 2000 Ärzte mehr gibt als vor dem Kriege. Dabei ist bekanntlich die Lage der Krankenkassenärzte die hohe Mehrzahl der Ärzte fällt auf Betreuer der Krankenkassenmitglieder nicht sehr günstig; für einen Patienten erhalten sie 5 Schilling, für Sonderleistungen bei erstmaligen Sonntagsbesuchen, bei nächtlichen Visiten, operativen Eingriffen und Geburtshilfen 10 Schilling, und wenn der Kranke mehr als 1,5 km vom Arzt entfernt wohnt, als Weggebühr 3 Schilling. Da das Defizit der Krankenkassen 50 Millionen Schilling beträgt, will man wenigstens einen Teil dieses Abganges nicht durch die so dringend notwendig gewordene Verwaltungsreform, sondern durch Kürzung der ärztlichen Honorare hereinbringen. Das nächstbegehrte Studium ist Welthandel 16 Prozent, an dritter Stelle stehen die Technischen Hochschulen 15 Prozent. Dann folgen Naturwissenschaften 10 Prozent und J u s mit nur 9 Prozent; obwohl gerade hier noch die relativ günstigsten Aussichten vorherrschen; es fehlen zum Beispiel auf den Rechtsanwältestand der Vorkriegszeit fast 2000 Personen, ein Mangel, der sich-besonders in Wien, Niederösterreich und im Burgenland sehr bemerkbar macht, wo nur 871 Advokaten 2500 vor dem Jahre 1938 gegenüberstehen. Die Geistes Wissenschaft en sind mit 8 Prozent der Studierenden vertreten, die Bodenkultur und die Hochschule für Musik mit je 5, die Kunstakademie mit 3, die Tierärztliche Hochschule und die Hochschule f ü r a ng ewandte Kunst mit je 2, Theologie mit 1 und sonstige Studienzweige mit 2 Prozent.

Während die österreichischen Hochschulen in erster Linie in Wien ‘vor dem Kriege einen Ausländerprozentsatz von etwa 30 aufweisen könnten, ist dieser infolge der politischen Weltlage auf 18 gesunken. Hingegen hat die Zahl der Studentinnen stark zugenommen, denn von den Gesamtinskribierten entfallen 31 Prozent auf sie 1937 waren es 18 Prozent. Im letzten Semester wurden 7475 Hörerinnen gezählt, die im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen die Natur- und Geisteswissenschaften 50 Prozent allen anderen Studien vorziehen, obgleich jetzt schon der Bedarf an Lehrern und Lehrerinnen an den Mittelschulen voll gedeckt ist. 29 Prozent wollen Ärztinnen werden, 10 Prozent haben das Welthandel-, 6 Prozent das Musikstudium und nur 3 Prozent Jus gewählt.

Neben der sozialen Umschichtung der Studentenschaft bat der letzte Weltkrieg auch noch in zwei anderen Beziehungen große Veränderungen mit sich gebracht. Die Studierenden von heute gehören oft älteren Jahrgängen an; während vor 1938 das Durchschnittsalter 19 bis 24 Jahre betrug, liegt es jetzt zwischen 23 und 30 Jahren. War ferner früher der verheiratete Hochschüler mehr’oder weniger eine Seltenheit, so hat nun fast ein Drittel der Hörer einen eigenen Familienstand Kriegsehen! und muß bei der angespannten Wirtschaftslage mit noch größeren Schwierigkeiten kämpfen als die ledigen Kollegen, von denen mehr als 70 Prozent ihren Lebensunterhalt durch stundenweise Arbeit in Fabriken, Büros usw. bestreiten müssen. Diese Alltagssorgen sind mit dafür maßgebend, daß 80 Prozent der heutigen akademischen Ju- gehd, im Gegensatz zu jener der Vorkriegszeit, sich vom politischen Getriebe fernhalten, wobei mitwirkt, daß viele Studierende in der Nachkriegszeit wegen einer einst oft aufgezwungenen politischen Eingliederung trübe Erfahrungen machen mußten.

Der Kampf um das tägliche Brot, um den Arbeitsplatz im Seminar, im Laboratorium verbraucht heute, den größten Teil der Kräfte einer akademischen Jugend; für freie Geistigkeit, Kultur und Kunst, bleibt keine Zeit, ist kein Geld vorhanden. — Ein letzter Aspekt, den die nüchterne Sprache der Zahl, der Statistik gerade noch anzeigt — ein schwerwiegendes Problem für die, Gesamtheit.

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