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Hohe Schule unter niederem Dach

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IN SEINER BUDGETREDE im Jahre 1957 hat der Bundesminister für Unterricht im Parlament erklärt, er suche in manchen Städten das schäbigste Gebäude. Dann wisse er mit Sicherheit, er stehe vor einer Mittelschule. Ueber die Technische Hochschule Graz, deren altes Haus versöhnlich in verfrühter Lenzsonne vor mir liegt, sind inoffizielle Aeußerungen bekannt, die wiederzugeben viel Effekt ergäbe — aber die Scham, das eigene Nest zu beschmutzen, hält davon .ab. Auf der Fahrt nach Graz wäre es indes überaus lockend gewesen, die Neubauten der Industrie,. des Handels und der diversen Kammern zu zählen, um sich ein Bild zu machen, für welche Zwecke heutzutage und morgen Geld vorhanden ist und für welche Aufgaben nicht. Aber in den Gängen und Arbeitsräumen der Grazer Technik oder beim Mittagessen in der Mensa weiterzuerzählen, was man gesehen hatte, wäre nicht ratsam gewesen. Die Studenten, die Assistenten und Professoren hätten sich verhöhnt gefühlt.

DER NOBELPREISTRÄGER FÜR CHEMIE 1925, Richard Zsigmondy, hat 1893, als er das damals neue chemische Institut der Grazer Technik sah, dieses als „total veraltet und völlig unzureichend” bezeichnet. Das Hauptgebäude der Grazer Technik, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts errichtet, war für 300 bis 400 Hörer gedacht. Im Sommersemester 1958 waren 2408 Hörer eingeschrieben, also die sechsfache Anzahl der ursprünglichen Planung. In den zwanziger Jahren ging man an die Errichtung eines Neubaues für Maschinenbau und die elektrotechnische Studieneinrichtung. Aber schon damals behauptete man, nicht über die nötigen Mittel zur Fertigstellung des Vorhabens ZUęVerfüget;,_ünd bis heute įft pur einą Hälfte des Plaftąs; ;ausgeführtL Während des letzten Krieges wurde das Gebäude der Technik von Bomben beschädigt. Zwei Jahre brauchte man, um zehn Millionen für Reparaturen aufzubringen. Inzwischen mußten neue Studieneinrichtungen, und zwar für Papier- und Glanzstofftechnik sowie für das Wirtschaftsingenieurwesen, berücksichtigt werden. Bei einem Stande von 1265 Hörern im Fache Maschinenbau (1958) reichte in der Mehrzahl der Lehrkanzeln die Zahl der erforderlichen Zeichenplätze nicht aus. Es kam so weit, daß in verschiedenen Fällen nur ein Drittel der Inskribierten einen Zeichenplatz fanch Das Chemiegebäude erwies sich als derart unzureichend, daß man den Grundstein für ein neues Chemieinstitut legen mußte. Das war allerdings im Jahre 1954. Soll man besonders erwähnen, daß das Haus nicht fertig ist? Soll man dazu noch sagen, daß es bereits zur Zeit seiner Planung zu klein war? Heute ist die Sachlage so, daß man nach fünf Jahren rund zwanzig Millionen Schilling verbaut hat (bei einem Gesamterfordernis von dreißig Millionen); ein besonderer Optimist, den ich vor dem Hause ausfragte, stellte die Eröffnung des Unterrichtsbetriebes für 1960/61 in Aussicht.

WEITER MIT DEM RUNDGANG! Im Gelände des früheren HeeresVerpflegsmagazins sind die Neubauten für ein zentrales Heizwerk, ein damit verbundenes Wärmekraftlabor und eine Träfostatioü begonnen worden. Diese Bauten sind sogar schon amtlich anerkannt, ebenso das Wasserkraftlabor und das Hochspannungslabor. Auch diese Bauten sollen bestenfalls erst 1960 fertig sein. Anläßlich der Verleihung der goldenen Ingenieursdiplome am Ende des vorigen Sommersemesters hat der Rektor darauf hingewiesen, daß fünfzig Jahre vorher der Akademische Senat beschlossen hatte, eine Erweiterung des Instituts zu beantragen. Vor fünfzig Jahren! Auch der Laie ahnt ungefähr, was sich auf dem Gebiet der Physik inzwischen ereignet hat. Im Hauptgebäude der Technik sind Ausweitungsmöglichkeiten nicht vorhanden. Das physikalische Praktikum — um ein Beispiel zu geben — bietet Raum für 40 Studenten, 110 waren letzthin inskribiert. Ich habe mir die Einrichtung, die Geräte und Apparaturen angesehen und bestätigt gefunden, was man un- gescheut in Graz zu hören bekommt: daß sie eine „Rumpelkammer” darstellen. Wie und wo įpan Geräte aufbewahren muß; welche Akrobatenkunststücke an den einzelnen Arbeitsplätzen, wo oft eine Geräteanordnung in den nächsten Platz hineinragt, nötig sind, spottet jeder Beschreibung.

Der konstruktive Wasserbau hat an der Grazer Technik eine große Geschichte. Professor Forchheimer ist einer der Begründer der theoretischen Hydraulik. Vor mehr als fünfzig Jahren hat er ein bescheidenes Labor für konstruktiven Wasserbau errichtet — zu einer Zeit, da man in den USA, wo heute die größten Wasserbaulaboratorien bestehen, von solcher Forschung keine Ahnung hatte. Der jetzige Institutsvorstand hat einen Hof überdachen lassen müssen, um zu einem provisorischen Labor zu kommen. Viele und sehr lohnende ausländische Aufträge müssen abgelehnt werden, weil keine Arbeitsplätze für die langdauernden Versuchsreihen vorhanden sind. Die Fakultät für Bauingenieurwesen und Architektur, wo hervorragende Persönlichkeiten als Lehrkräfte tätig sind, leidet gleichfalls an erschreckender Raumnot. Von den tausend Hörern findet höchstens die Hälfte Zeichenplätze. Die Hörsäle reichen nicht einmal für die Pflichtvorlesungen. Die Lehrkanzel für allgemeine und technische Mechanik muß mit nur vier Assistenten die Uebungsarbeiten von achthundert Studenten in jedem Semester leiten! Noch eine Prise von den geodätischen Kanzeln gefällig? Oesterreich gilt zufolge der photogrammetrischen Arbeiten von Scheimpflug und Orel als die Heimat dieser Wissenschaft. Indes: moderne photogrammetrische Instrumente lernen die Hörer nur bei den Exkursionen in kartographische Institute -kennen. Wohin man in Graz an der Technik kommt und wonach man fragt, es gibt zumeist nur eine Ąntr wopf; „Haben “wir flieht.” Oder bestenfallsf’,Vist’ aus Tem vorigen Jahrhundert.”

EINE HOCHSCHULE IST DIE VISITENKARTE des Landes. Die Hochschulen Westdeutschlands besitzen im Durchschnitt 82, die Wiener Technik hat 5 5, die Grazer Technik 32 Professoren. Das Land Baden-Württemberg, gebietsmäßig halb so groß wie Oesterreich und mit etwa ebensoviel Einwohnern wie Oesterreich, wies für seine zwei Techniken in Stuttgart und Karlsruhe 125 Millionen Schilling aus. Wien bekam 27 und Graz 13,8 Millionen Schilling. Eine Hochschule sollte auch Mittler und Spiegelbild der heimischen Wirtschaft sein. Nun, das Holzland Oesterreich leistet für die Holzforschung 0,05 Prozent des in Schweden dafür ausgelegten Betrages, und dann wundert sich die , Industrie über Absatzschwierigkeiten, jene Industrie, der weitgehend das Verständnis für Hochschulforschung mangelt. Es wurde schon oft darauf hingewiesen, daß Steuerfreiheit im Rahmen der vorgesehenen Novelle zum Einkommensteuergesetz ein Weg wäre, um zusätzliche Mittel frei zu machen. Aber man kann sich vorstellen, daß die vorgeplanten zwei Prozent des Gewinnes vor Abzug der Betriebsausgaben nicht hinreichen. Westdeutschland hat zehn Prozent des Gesamtbetrages der Einkünfte oder zwei fcomjrtė des’Betrages, der sich aus den Aufwendungen Für Löhne und Gehälter und dem steuerbaren Umsatz zusammensetzt, steuerfrei erklärt, sofern die Widmungen einer ermächtigten Stelle — zum Beispiel dem Stifterverband für die deutsche Wissenschaft — übergeben werden. Aber ein Erfolg wird auch nach einer freizügigen Einkommensteuernovelle nur eintreten, wenn die großen Unternehmungen, die verstaatlichten Betriebe und Bankkonzerne, vorangehen und ein Beispiel geben; wenn öffentliche Mittel nicht zum Ausbau privater Forschungsstätten aufgewendet werden, z. B. uni Modellversuche für Bauvorhaben im eigenen Wirkungskreis zu machen, anstatt dies den Technischen Hochschulen zu überlassen. Zur Raumnot an den technischen Instituten gehört in Graz ferner der Zustand auf dem Wohnungsmarkt die Tatsache, daß von Ausländern für ein Zimmer 700 Schilling monatlich bezahlt werden, ein Betrag, von dem viele inländische Studenten einen ganzen Monat lang leben müssen. Man hat es der steirischen Landesregierung hoch anzurechnen, daß sie bereits 1958 zwei Millionen Schilling für ein Inländerheim vorgesehen hat.

BEIM RUNDGANG DURCH DIE INSTITUTE Von den 3 500 Studierender der altemund neuen Technik sind nur 1200 Oesterreicher, Im Fach Maschinenbau kommen auf einen Oesterreicher fünf Ausländer, in manchen Zeichensälen steht das Verhältnis 1:10. Man sagte mir indes in Graz, es wäre verfehlt, einen Numerus clausus einzuführen. In der Tat; Entweder wir benennen uns bloß in Festreden als Brücke zwischen, Ost und West und schließen vor jenen Räumen, die historische Beziehungen zu Graz haben, die Türen. Das wäre eine brüchige Brücke, ein Renommiersteg. Oder wir werden uns bewußt, daß. Graz seine Technik gerade heute, wo der Ostraum die Bedeutung der Heranbildung möglichst vieler und spezialisierter Techniker.längst begriffen hat, eine wichtige Funktion bis in den Nahen und Mittleren Osten darstellt (wir mußten Forschungsarbeiten für den Assuandamm zurückstellen!). Dann aber darf das Institut wohl erwarten, daß von den 57 Millionen, welche die Ausländer jährlich als Studierende in Graz ausgeben (mehr als Salzburg aus dem Fremdenverkehr einbringt), ein entsprechend großer Anteil der Technik zugute kommt. Es kann so nicht mehr weitergehen, daß im Budgetjahr 1958 als präliminierter Abgang der Bundestheater 152 Millionen Schilling, das sind mehr als 40 Prozent des ganzen Hochschülbudgets, vergleichslos hingenommen wird; daß das Festspielhaus in Salzburg allein dreimal soviel kosten wird als das Chemische Institut in Graz. Und was soll man sagen, wenn man von maßgeblichen Persönlichkeiten in Graz hört, daß sie bei ihren Bitten in Wien an einem Tag in elf verschiedenen Ministerien vorspreöhen müßten und mit wohlgesetzten Versprechungen nach Hause geschickt wurden, während die Presse berichtete, daß für eine geplante Winterolympiade in Innsbruck 120 Millionen Schilling — nur als Grundzahl — in den Finanzierungsplan gestellt wurden und für eine in den Wolken hängende Sommerolympiade in Wien 300 Millionen Schilling aufzubringen wären? Keiner der vorgenannten Pläne soll bestritten werden. Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Gewichte ungleich verteilt sind.

AUF DER HEIMFAHRT zeigt mir der Kraftwagenlenker einen imponierenden mehrstöckigen Neubau, glänzend von Glas und Beton, modernster Architektur. „Eine Schule?” frage ich gedankenlos. „Nein, eine Bezirkshauptmannschaft”, lautet die Antwort.

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