6704553-1963_46_06.jpg
Digital In Arbeit

Der Student von Prag 1963

Werbung
Werbung
Werbung

Es war am Vorabend des kommu nistischen Umsturzes des Jahres 1948. Der damalige Informationsminister Kopecky hält vor Studenten eine Rede, die bereits an Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrigläßt: „Ich könnte davon erzählen“ -- so beginnt der Minister — „wie in unseren Industrieunterneh-

mungen schon oft Stimmen laut wurden, daß sich die Arbeiter nicht länger dafür plagen werden, damit für Milliarden von Steuergeldern an den Hochschulen Bastionen der Reaktion errichtet werden. Schon oft mußten wir die Arbeiter vor Aktionen gegen die Studenten zurückhalten Die Hochschulen ver- mfttSlii1 in der Tschechoslowakei nicht einmal so viel Bildung, wie sich ein Arbeiter aneignet, der laufend die kommunistische Presse liest Wir glauben, daß die Studenten schließlich früher oder später alle mit uns gehen werden. Nichts anderes wird ihnen übrigbleiben!“ Nun, das Gerede von den „Bastionen der Reaktion“ war gerade in Prag nicht allzu überzeugend, wo die Arbeiter die Zeit des deutschen „Protektorats“ fast noch am glimpflichsten überstanden hatten, während die Intelligenz und vor allem die studierende Jugend, nicht zuletzt durch die Schließung der Hochschulen, die Hauptleidtragenden waren.

Zuckerbrot und Peitsche

Von ihrem Standort aus hatten die Kommunisten allerdings recht: die Hochschulwahlen, die letzten freien Wahlen, die die Tschechoslowakei überhaupt noch erlebte — sie wurden im Februar 1948 abgehalten —, brachten den Kommunisten zwar keine schlechten Ergebnisse, aber auch keinen Triumph. An der Spitze stand der vo kssoziale (Benes nahestehende) Studentenverband mit 37 Prozent der Stimmen, gefolgt von dem der (christlichen) Volkspartei mit 28 Prozent und schließlich dem kommunistischen mit genau 20 Prozent. Acht Prozent waren schließlich auf sozialistische und sechs Prozent auf unabhängige Kandidaten entfallen.

Wie auf anderen Gebieten ging auch hier das neue kommunistische Regime mit Zuckerbrot und Peitsche vor. Zuerst mit der Peitsche: 9500 Studenten, immerhin 18 Prozent aller Studierenden, wurden vom weiteren Studium ausgeschlossen und „lebenswichtigen Berufen“ zugeführt. Auch die Säuberung der Professoren ging rasch und rücksichtslos vor sich. Dann kam es zu einem sehr’großzügigen Ausbau des Hochschulwesens, der ursprünglich wohl qualitätsmindernd wirkte, aber immerhin den gewaltigen Vorteil hatte, daß man vor allem durch die starke Dezentralisierung der Fakultäten, die übrigens schon bald nach 1945 und nicht erst 1948 ein-

setzte, an weit mehr Begabung und neue Schichten der Intelligenz herankam. Gegenüber der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg wurden 37 neue Hochschulen und 59 neue Fakultäten auf dem Gebiet der Tschechoslowakei geschaffen, Ausbildungsmöglichkeiten für zusätzlich

73.0 Studenten! Aber der Dank der jungen Intelligenz — so scheint es dem Regime — bleibt aus.

Flucht in die „musischen Fächer“

So wurden etwa im vorigen Semester bei Inskriptionsschluß nur 49 Prozent der geplanten Plätze an den slowakischen Fakultäten von Hörern belegt, nach weiteren Anstrengungen waren es knapp 85 Prozent der ursprünglich vorgesehenen Hörerzahl von 7290. Aber das war es nicht allein. Die Verteilung dieser Inskriptionen auf die einzelnen Fakultäten erfolgte keineswegs so, wie man es sich in Prag beziehungsweise Preßburg vorgestellt hatte.

An der Hochschule für Bildende Künste, bei der nur 20 Neuaufnahmen vorgesehen waren, hatte sich die fünffache Zahl, nämlich 110, gemeldet. An der Musikhochschule waren immerhin 55 neue Plätze für Erstsemestrige „geplant“, gemeldet haben sich genau dreimal soviel, nämlich 165! Diesem „Übersoll“ bei den musischen Fächern stand eine arge Planunterschreitung bei vielen anderen — und sehr wichtigen — Hochschulen und Fakultäten gegenüber: für die Technische Hochschule in Kaschau meldeten sich nur 51 Prozent der vorgesehenen Hörer, für die Fakultät für Maschinenbau an der Kaschauer Technik gar nur 90 statt der vorgesehenen 230 Studenten! Etwas günstiger, wenn auch insgesamt reichlich unbefriedigend, war die Situation an den anderen Hochschulen der Slowakei: an der Fakultät für Bauwesen der Technischen Hochschule Preßburg meldeten sich nur 56 Prozent der eingeplanten Hörer, an der für Maschinenbau 71 Prozent, an der für Chemie 80 Prozent, für Elektrotechnik sogar 97 Prozent, im Durchschnitt immer hin nur 70 Prozent. Bei den pädagogischen Hochschulen schwankte die Zahl der Anmeldungen sehr stark: in Banskä Bystrica waren es immerhin 83 Prozent, in Kaschau gerade 29 Prozent! Die Agrarhochschule in Neutra bekam 73 Prozent der gewünschten Hörer, die Hochschule für Welthandel 71 Prozent, die für Verkehrswesen in Sillein 82 Prozent.

Natürlich hat diese Entwicklung mancherlei Ursachen. Einmal liegt nun eben eine sehr wesentliche Begabung von Tschechen und Slowaken auf dem musischen Gebiet; es läßt sich aber auch nicht leugnen, daß man mit diesem Studium die politischen Gefahrenzonen leichter umschiffen — und wenn man Glück hatte, vielleicht sogar ab und zu ins Ausland kommen konnte. Aber natürlich spielte auch bei dieser Wahl die Landflucht, besser gesagt, das Bestreben, nicht aufs Land gehen zu müssen, eine Rolle: man suchte sich jene Berufe aus, mit denen man am sichersten in der Stadt zu bleiben vermochte. „Es sieht so aus“ — sagte zu dieser Einstellung kürzlich der neue Vorsitzende des tschechoslowakischen Jugendverbandes —, „als ob es außer Prag, Brünn und Preßburg keinen anderen Ort unter der Sonne geben würde, wo man richtig leben und erfolgreich arbeiten kann.“

Mangelndes Interesse am Hochschulstudium

Es meldete und es meldet sich also insgesamt zuwenig Jugend für das Hochschulstudium; sie wählen nicht jene Fächer, die im Rahmen der Planung gewünscht werden. Aber diese Jugend hat noch weitere „Fehler“: sie entstammt vor allem nicht jenen Familien, aus denen man dies gerne möchte: aus Bauern - und Arbeiterfamilien. Seit Jahren ändert sich dieser Prozentsatz kaum und er ist nicht allzu günstig. Macht der Anteil der Arbeiter und Kollektivbauern an der Gesamtbevölkerung angeblich 80 Prozent aus, so ist der Anteil der Studenten aus diesen Familien an den Gewerbe- und Agrarfachschulen 63,1 Prozent, an den pädagogischen Instituten 62,8 Prozent und an den übrigen Hochschulen im Durchschnitt nur

53,0 Prozent. Im Verlauf der letzten fünf Jahre hat sich dieser Anteil nur um fünf Prozent, also jährlich nur um ein Prozent erhöht.

Kein Trost in der Nachbarschaft

Wenn Prag zu den anderen Volksdemokratien blickt, so atmet es etwas erleichtert auf, denn hier ist die Situation ebenfalls kaum anders, in Polen mußte man sogar eine rückläufige Entwicklung zur Kenntnis nehmen. Im übrigen hat man eben nur die Wahl zwischen zwei Übeln: entweder ein erfreulicher Prozentsatz von Studenten aus Arbeiterfamilien — oder Nichterfüllung des Plansolls für den akademischen Nachwuchs! Aber auch das ist noch nicht alles. Der Studienerfolg der Hochschüler läßt zu wünschen übrig. In den vergangenen Jahren mußten rund 30 Prozent aller Hochschüler der Tschechoslowakei vorzeitig das Studium abbrechen. Ursache sei vor allem, daß die Studenten „durch anspruchsvolle Gegenstände ungleichmäßig belastet würden, was zu einem oberflächlichen Studium und zu formellen Kenntnissen“ führe.

Die Initiativen, die auch das kommunistische Regime auf dem Gebiet der Hochschulen entfaltet hat, waren vielgestaltig und haben auch gigantische Mittel beansprucht. Man hat aber dabei nicht einkalkuliert, daß sich der junge Mensch, vor allem die junge Intelligenz, nicht so ohne weiteres in Normen pressen läßt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung