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Kandidaten statt Doktoren

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Der Titel „Akadcmike r“ hat heute in der Tschechoslowakei eine neue, viel engere Bedeutung als früher und als hierzulande: er dient nicht mehr allen akademisch Gebildeten, sondern ist nur den Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften vorbehalten. Genosse Minister Akademiker Nejedly, Universitätsprofessor Akademiker Trävnl'cek lauten heute in Prag nach russischem Muster die Titel der vom jetzigen Regime anerkannten Forscher und Gelehrten.

Eine ähnliche Wandlung vollzog sich mit dem Doktor titel: Seit September erfolgt die Verleihung nach neuen, weit strengeren Gesichtspunkten als bisher. Gleichzeitig wurde ein neuer akademischer Titel, „Kandidat“, eingeführt, der gleichfalls auf Grund einer Dissertation verliehen wird. Alle übrigen Hochschulabsolventen, die die vorgeschriebene Abschlußprüfung bestanden oder eine Diplomarbeit verfaßt haben, werden in Hinkunft je nach ihrer Studienrichtung die Bezeichnung „Promovierter Forstökonom“, „Promovierter Zahnarzt“, „Promovierter Pädagoge“, die Absolventen technischer Hochschulen „Ingenieur-Architekt“, „Chemie-Ingenieur“ usw. führen.

Der Doktortitel wird künftig nicht nur von den Hochschulen bzw. den Fakultäten, sondern auch von den wissenschaftlichen Instituten der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, der Slowakischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der landwirtschaftlichen Wissenschaften verliehen; er ist automatisch mit der Ernennung zum ordentlichen Mitglied einer dieser Akademien verbunden. Von dem früher erworbenen Doktortitel unterscheidet sich der neue dadurch, daß er voll ausgeschrieben, also niemals abgekürzt wird.

Der totalitäre Staat, in dem die einzelnen Bürger nur Rädchen eines ungeheuren Getriebes sind, muß zwangsläufig auch die Menschen katalogisieren, klassifizieren, numerieren; .Diese Nummer, diese Bezeichnung, die die Voraussetzung für seine Einordnung bildet, muß jeder möglichst an der Stirne tragen: Helden der Arbeit und Künstler der Nation, Staatspreisträger, Laureaten des Friedenspreises, des Ordens der Republik oder des Ordens der Arbeit, hervorragende kulturelle oder politische Arbeiter, verdiente Arbeiter auf dem Gebiete des Sports ... Der alte Doktortitel, erworben an einer univer-sitas literarum, das Zeugnis selbständiger wissenschaftlicher Arbeit und Forschung, der Fähigkeit, die großen Zusammenhänge hinter den Erscheinungsformen zu erfassen und aufzuzeigen, ist nicht mehr begehrt. Verlangt wird der Spezialist: der promovierte Pharmazeut, der promovierte Kinderarzt oder der promovierte Öekonom.

Diese Neuregelung trägt der Spezialisierung des Hochschulwesens Rechnung, die sich bereits in den letzten Tahren angebahnt hat und vor allem seit der Errichtung eines eigenen Hochschulministcriums Triumphe feierte. Mit Beginn des neuen Studienjahres wurde in Prag eine neue Hochschule für Eisenbahnwesen eröffnet, ferner eine ökonomische Hochschule mit fünf Fakultäten und eine Hochschule für russische Sprache, in Reichenberg eine Hochschule für Maschinenbau, in Bad I'odcbrad eine Fakultät für Schwachstromtechnik; Preßburg erhielt gleichfalls eine ökonomische Hochschule, Mährisch-Ostfau eine Fakultät für Geologie an seiner montanistischen Hochschule und Kaschau gleichfalls eine neue Fakultät an seiner Technik, die Theologische Cyrill-und-Method-Fakultät, die freilich nicht dem Schulministerium, sondern dem Kirchenamt untersteht, wurde aus Prag nach Leitmeritz verlegt.

Mit den 12.000 neuen Hörern, die am Ii Oktober ihr Studium begonnen haben, hat sich die Hörerzahl gegenüber dem Jahre 1937 auf das Zweieinhalbfache erhöht und die Zahl von 50.000 überschritten. Erstmalig seit 1945 befinden sich darunter auch wieder deutsche Studenten. Die Zahl der Hochschulen wuchs von 9 im Jahre 1937 auf 22 im Jahre 1949 und hat jetzt den Stand von 32 erreicht, in der gleichen Zeit stieg die Zahl der Fakultäten von 33 auf 57 und schließlich 104. Während aber auf einen Dozenten im Jahre 1937 nur 18 Hörer entfielen, sind es jetzt in der westlichen Staatshälfte 37, in der Slowakei sogar 48.

Verdanken wir diese statistischen Angaben der jüngsten Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Siroky, so bietet die Rede des neuen Schulministers S t o 11, die er bei der Eröffnung des neuen Studienjahres in der Aula des altehrwürdigen Carolinums hielt, einigen Aufschluß über den internen Hochschulbetrieb: Aehnlich wie Minister Nejedly einst das Vorlesungsprogramm aller Fakultäten um die Gesellschaftswissenschaften bereichert hat (an Stelle der „bourgeoisen pseudowissenschaftlichen Soziologie“), wurde nun die Beherrschung der russischen Sprache den Studenten aller Fachrichtungen zur Pflicht gemacht, jener Sprache, in der nach den Worten des Ministers die größten und kühnsten wissenschaftlichen Ideen der neuen Aera der Menschheit durchgekämpft wurden und die für unsere Zeit das bedeutet, was dem Mittelalter die lateinische Sprache und der Periode des „progressiven Kapitalismus“ die französische Sprache war.

Die materielle Sorge des Staates um die Studenten ist größer als je zuvor: Allein seit Mai wurden 23 Wohnheime errichtet, die in den nächsten Tagen bezugsfertig sein werden und in acht Hochschulstädten, in Prag, Brünn, Preßburg, Reichenberg,* Pardubitz, Pilsen, Podebrad und Kaschau 6000 Studenten aufnehmen sollen. Ueber die Mängel des wisscnschaftliehen Betriebes kann aber auch Prag nicht hinwegsehen: Die Professoren sind entweder überaltert oder es handelt sich um ganz junge Kräfte, die weder ■ über pädagogische Befähigung noch über genügend Fachwissen verfügen, die Vorlesungen kranken an Dogmatismus und mangelnder schöpferischer Gestaltung, es fehlt an Lehrbehelfen. Vor allem aber sah sich der Minister veranlaßt, die „wissenschaftlichen Kader“, das Heer der neuen Assistenten und Aspiranten, Professoren und Dozenten daran zu erinnern, daß es ohne wissenschaftliche Arbeit keine Hochschulen geben kann. Man hat offenbar auch in Prag erkannt, daß Rekordzahlen von Hörern, Fakultäten und Aspiranten allein die Wissenschaft um keinen Schritt vorwärtsbringen.

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