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Vision unserer Bildung

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Es war nicht als Unterstützung der am Jahreswechsel reaktivierten Sterndeuter gedacht, daß die Buchfassung des OECD-Berichtes „Bildungsplanung in Österreich“ gerade um Silvester den interessierten Stellen zuging. Die Statistiker und Soziologen hatten vor genau vier Jahren im Abkommen zwischen der österreichischen Bundesregierung und der „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ den Auftrag erhalten, Österreichs Bildungswesen zu durchleuchten und Voraussagen für die kommenden Jahre zu wagen. Es war dann die Aufgabe der wissenschaftlichen Abteilung des Unterrichtsministerium, die sehr bald aus dieser OECD-Arbeitsgruppe herauswuchs, aus Zahlenreihen, aus Erhebungen und Umfragen, aus Kurven, Graphiken und Tabellen das Bild zu zeichnen — das Bild des österreichischen Bildungswesens, wie es — voraussichtlich — aussehen wird, wie es aussehen soll, um den Bedarf der Volkswirtschaft an Führungskräften zu decken, aber auch aufzuzeigen, was geschehen muß, um dieses Ziel wirklich erreichen zu können.

Als im November die Erziehungs- miiniister auis 24 europäischen Staaten in Wiens Hofburg feststellten, daß in Ost und West, in Nord und Süd die Probleme der Bildungßexplosion so ziemlich die gleichen sind und nuir die Methoden zu ihrer Bewältigung differieren, da kam immer wieder der Stoßseufzer auf, man brauche zunächst einwandfreie Statistiken, vergleichbare Unterlagen, genaue Erhebungen, bevor man überhaupt daran gehen könnte, in detaillierter Planung die Schwierigkeiten zu überwinden. Gastgeber Minister Piffl-Periecič ließ darauf den Kollegen die ersten, eben vom Buchbinder gekommenen Exemplare des 1,4 kg schweren 520-Setten-Bamdes in die Postfächer legen und erntete den schon gewohnten Applaus. Seit vor zweieinhalb Jahren die ersten Detailergebnisse der Untersuchungen bekannt wurden, gelten Österreichs Bildungsforscher als Experten, denen man auch im Ausland gerne zuhört, wenn sie über ihre Arbeiten berichten. Als im Oktober Erziehungsplaner aus 52 Ländern in Williamsburg (USA) über die „Weltkrise der Erziehung“ diskutierten und Präsident Johnson für 1970 das „Jahr der Erziehung“ ankündigte, da mußte auch Ministerialrat Hans Nowotny, Hauptverantwortlicher für den OECD-Bericht, seine Erfahrungen zum Besten geben. In Österreich ist in diesen zwei Jahren der OECD- Bericht zum Begriff geworden, zur Basis der kulturpolitischen Öffentlichkeitsarbeit, zur schweren Artillerie bei der Vertretung der Ansprüche des Bildungswesens.

Das Morgen berechnen

Was kann alles in zehn und fünfzehn Jahren passieren, ist der gelernte Österreicher geneigt zu fragen. Diese Einschränkung steht über der ganzen Arbeit — nur wenn die Entwicklung in der Form weiterläuft, wie sie heute mit dem Blick auf gestern festzustellen ist. Aber auch unter diesen Einschränkungen ist es interessant genug, in die Zukunft zu sehen — und unerläßlich, wenn Österreich nicht in eben diesen zehn bis fünfzehn Jahren in größte Schwierigkeiten geraten will.

Um ein Drittel mehr Kinder

Ausgangspunkt sind die Geburtenzahlen jener Jahrgänge, die in diesen Jahren durch die Schule laufen werden. Die Zahl der Lebendgeborenen in Österreich stieg von 1953 bis 1963 von rund 100.000 auf 135.000. Zur Zeit sind die Jahrgänge schwächer, da die Eltern der jetzt Geborenen aus den schwächeren Kriegs- und Nachkriegsjahrgängen stammen. Wenn aber die größere Kinderfreudigkeit der jungen Generation anhält, dürfte 1974 zum erstenmal seit dem Krieg die Marke der

140.0 wieder überstiegen werden. Für 1985 rechnen die Statistiker sogar mit 150.000 (soviele Kinder waren seif 1921 nicht mehr in Österreich geboren worden).

Das bedeutet:

• In diesem Herbst wurden 124.400 Kinder schulpflichtig — um 4300 mehr als im Jahr vorher.

1970 — auf dem Höhepunkt der Kurve — werden 129.000 Abc-Schüt zen untergebracht werden müssen.

• Dann geht die Zahl der schulpflichtig werdenden Kindern zwar wieder leicht zurück — 1975 sind es noch 125.600,

• aber auch noch in 20 Jahren wird man sich auf steigende Gesamtschülerzahlen einstellen müssen.

• An den Pflichtschulen ist bis 1975 mit einer Zunahme der Schüler um 30 Prozent zu rechnen, an berufsbildenden mittleren Schulen um 64 Prozent, an den allgemeinbildenden höheren Schulen um 68 Prozent, an den berufsbildenden höheren Schulen um 58 Prozent.

Jeder Sechste Maturant

Von den heute Dreißig- bis Fünfunddreißig jährigen — genauer gesagt von den Geburtsjahrgängen 1933 bis 1936 konnten 6,6 Prozent eine Mittelschule oder eine höhere Schule mit der Reifeprüfung ab-

schließen. Die heute in die Schlußrunde gehenden Gymnasiasten, Handelsakademiker und Gewerbeschüler machen bereits rund 13 Prozent ihrer Jahrgänge aus — von ihren jüngeren Kameraden aus den Jahrgängen 1953 bis 1956 wird einst jeder sechste sein Reifezeugnis vorweisen können.

Abeir wohin mit ihnen allen? Droht nicht auch für sie wieder das Schicksal des Stehkragenproletariats, wie es die Zwischenkriegszeit krisenhaft vergiftet hat? Dr. Josef Steindl vom österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung, verantwortlich für das 4. Kapitel des Berichtes, errechnet das Gegenteil.

Auch er geht von zwei Prämissen aus:

• Dauernde Vollbeschäftigung und

1 weiteres Wachstum des Bruttonationalprodukts um vier Prozent jährlich, wie es zwischen 1958 und 1963 der Fall war.

Dann aber schätzt er:

• In der Landwirtschaft wird die Zahl der Arbeitskräfte bis 1980 von

760.0 auf 336.000 sinken — unter die Hälfte, von 19,9 auf 9,8 Prozent der Gesamtkräftebilanz.

• Damit wird der Anteil des Handels an den Arbeitskräften von 9 auf 12 Prozent,

• der der Dienstleistungen von 12 auf 16 Prozent,

• der der Industrie von 20 auf 25 Prozent steigen. Die anderen Wirtschaftszweige bleiben im wesentlichen auf gleicher Höhe.

Integration und Automation

Österreichs Wirtschaft befindet sich in einer Übergangsperiode.

Integration und Automation werden ihre Wirkungen zeigen, die in ihrem Ausmaß noch kaum zu übersehen sind. Die Frage der Forschung ist der springende Punkt der Bedarfsschätzung, schreibt Steindl weiter. Wir können auf große Leistungen in der Vergangenheit hinweisen. In den letzten Jahrzehnten haben wir eine stagnierende Entwicklung durchgemacht. Für die Zukunft müssen wir eine grundlegende Änderung erwarten, wenn wir den sonst unausbleiblichen üblen Folgen entgehen wollen...

So berechnet er, daß Österreichs Wirtschaft 1980 mit einem Fehlbestand von mehr als 7000 Diplomingenieuren rechnen muß, und von fast ebenso vielen Mittelschultechnikern. Für die Funktionen der Betriebsführung in der Wirtschaft wird man um 6500 Akademiker mehr brauchen, als heute verfügbar sind.

52.0 Akademiker mehr

Insgesamt wird 1980 — berechnet

Steindl — der der veränderten Berufsstruktur angemessene Stand an Akademikern um 52.000 größer als im Ausgangsjahr 1961. Zu diesem Erweiterungsbedarf von 52.000 Akademikern kommt der Ersatz der ausscheidenden Arbeitskräfte mit rund 46.500. Für die Beobachtungsperiode 1961 bis 1979 wird mit einem Absolventenstand von 66.510 gerechnet, so daß immer noch rund

32.0 Akademiker fehlen werden.

Dann wird aber auch das traditionelle Gleichgewicht zwischen den Berufsgruppen der österreichischen Intelligenz völlig umgestoßen sein: Heute gibt es je 14.000 Mediziner, Ingenieure und Juristen und etwa 8000 Lehrer an höheren Schulen. Wenn die Zielvorstellungen realisiert werden, wird es 15.000 Mediziner.

14.0 Juristen, aber 30.000 Ingenieure und 20.000 Lehrer mit Lehramtsprüfung geben, zu denen dann die Sozialwissenschaftler mit rund

15.0 als neue große Gruppe vertreten sein werden.

Nur Vision?

Das alles aber kostet Geld, sehr viel Geld. 1963 gaben Bund, Länder und Gemeinden 5,7 Milliarden Schilling für das gesamte Schul- und Bildungswesen aus. Um Schulen und Hochschulen 1975 in die Lage zu versetzen, die ihnen vorgerechneten Aufgaben zu erfüllen, wird man — nach den Preisen von 1963 — mehr als 15 Milliarden Schilling ausgeben müssen, womit der Anteil der Erziehung am Bruttonationalprodukt von 2,9 auf 4,8 Prozent ansteigen würde — aber auch andere Länder geben so viel für ihre Schulen aus.

Wer soll das bezahlen? Nach den Berechnungen des Berichtes würde 1975 das Unterrichtsbudget 11,4 Prozent des Staatsbudgets ausmachen müssen. Für 1968 wurde erstmals die Zehn-Prozent-Hürde überschritten — also scheint es nicht ausgeschlossen, in den kommenden sieben Jahren den Prozentsatz entsprechend weiter zu erhöhen. Wenn auch allgemein der Zug zu einer immer stärkeren Heranziehung des Bundes zur Deckung des Bildungsaufwands vorhanden ist, so empfiehlt der Bericht doch, nach Methoden zu forschen, wie man auch unmittelbar interessierte private Stellen zu Förderungsaktionen zugunsten der Bildung veranlassen könnte. So wäre etwa an steuerliche Begünstigungen für Firmen zu denken, die Beihilfen zahlen, wenn sich die Jugendlichen zu einem späteren Eintritt in den Betrieb verpflichten. Noch besser wären solche Aktionen seitens der Wirtschaftsorganisationen.

So weit ein paar Blitzlichter aus der Zukunftsvision der Statistiker und Soziologen in der wissenschaftlichen Abteilung des Unterrichtsministeriums. Die Vision scheint sehr optimistisch, zeigt sie doch den Zug in ein bildungsbewußtes Zeitalter — aber es hängen noch manche dunkle Schatten im Bald.

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