Die Bevölkerungsexplosion ist abgesagt

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Entwicklung der Weltbevölkerung war Jahrzehnte lang gleichbedeutend mit Bevölkerungsexplosion. Neuere demographische Untersuchungen zeichnen ein anderes Bild.

Wer Diagramme der langfristigen Entwicklung der Weltbevölkerung betrachtet, steht vor einem eindrucksvollen Phänomen. Über Jahrhunderte, ja Jahrtausende ist die Zahl der Menschen auf der Erde relativ konstant und dann gegen Ende des Beobachtungszeitraums eine explosionsartige Steigerung: Um 1800: eine Milliarde Menschen, um 1930 zwei, 1960 drei, 1974 vier 1987 fünf, 1999 sechs Milliarden ...

Seit Jahrzehnten stehen wir im Banne dieser Entwicklung, sind geplagt von der Sorge, die Welt werde bald aus allen Nähten platzen. Das Schlagwort von der Bevölkerungsexplosion prägte sich tief ins Bewusstsein der Menschen. Einschlägige UN-Publikationen und die Prognosen des "Club of Rome" haben wesentlich dazu beigetragen. Horrorvisionen von einer Welt, die von zwölf Milliarden Menschen im 21. Jahrhundert bevölkert sein würde, standen im Raum.

In den letzten Jahren hat jedoch selbst die UNO ihre Prognosen nach unten revidiert. Derzeit rechnet die UNO bis 2050 mit 8,9 Milliarden Menschen. Und die IIASA (Internationales Institut für Angewandte Systemanalyse) sagte im Vorjahr voraus, dass etwa um 2070 die Weltbevölkerung mit rund neun Milliarden einen Höchststand erreicht haben wird. Bis 2100 rechnet die IIASA dann mit einem Rückgang auf 8,4 Milliarden.

Der Umstand, dass beim jetzigen Stand der Dinge die Bevölkerungsexplosion abgesagt ist, hat sich allerdings nicht wirklich herumgesprochen. Und vor allem wird allzu leicht übersehen, dass sich in den Industrieländern schon lange ein Trend zum Schrumpfen der Bevölkerung abzeichnet. Die kürzlich von der "Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft" (SWA) veröffentlichte Studie "Vom Babyboom zu Babycrash" ruft diese Tatsache in Erinnerung.

Dass in Europa demographische Veränderungen stattfinden, ist zwar bekannt, das Interesse der Öffentlichkeit konzentriert sich bei dieser Frage aber überwiegend auf die rasch wachsende Zahl alter Menschen, also der über 65-Jährigen. Man fragt sich, wie man die vielen Pensionisten erhalten und die Kosten für ihre gesundheitliche Betreuung aufbringen wird.

Wie angespannt die Situation ist, zeigen demographische Berechnungen im Auftrag der UNO, die in der SWA-Studie zitiert werden: 1,4 Milliarden (!) Zuwanderer müsste Europa bis zum Jahr 2050 aufnehmen, um die Relation von Pensionisten und werktätiger Bevölkerung auf dem Stand von 1995 konstant zu halten. Eine unvorstellbare Zahl, wenn man bedenkt, dass Europa derzeit nur rund 730 Millionen beherbergt.

Diese Zuspitzung der Situation ist nicht allein auf die stark gestiegene Lebenserwartung (in Österreich etwa ein Plus von rund 15 Jahren allein seit 1950) zurückzuführen, sondern vor allem auf den massiven Einbruch bei den Geburtenzahlen. In diesem Ausmaß ist er ein in der Geschichte einmaliges Phänomen, das Albert Hofmayer in "Ein halbes Jahrhundert Weltbevölkerungsentwicklung" ausführlich beschreibt. Er vergleicht in elf kulturell halbwegs homogenen Regionen der Welt die Entwicklung der Nettoreproduktionsraten seit 1950. Sie geben Auskunft darüber, wievielen Mädchen eine Frau im gebärfähigen Alter im Durchschnitt das Leben schenkt. Liegen diese Werte längere Zeit hindurch über eins, so zeichnet sich ein Bevölkerungswachstum ab. Werte unter eins deuten auf ein Schrumpfen der Bevölkerung hin.

In den fünfziger Jahren lagen die Nettoreproduktionsraten in allen Regionen über eins. Auch in Europa ist bis in die Mitte der sechziger Jahre in fast allen Ländern ein Anstieg der Geburtenfreudigkeit festzustellen. Es sind die Baby-Boom-Jahre. Ab 1964 sinken jedoch die Geburtenraten und bis in die erste Hälfte der achtziger Jahre hat sich das Phänomen der "below replacement fertility" (also Raten unter eins) bereits auf fast ganz Europa, Nordamerika und Australien/Neuseeland ausgeweitet.

Bisher unvorstellbar

Als dieses Phänomen in den siebziger Jahren erstmals in mehreren Ländern auftrat, vertraten die meisten Beobachter noch die Meinung, man habe es mit einem vorübergehenden Geschehen zu tun. Mittlerweile ist die Fruchtbarkeit jedoch dauerhaft und außerdem auf ein vorher undenkbar niedriges Niveau abgesunken. Die niedrigsten Werte wurden für Spanien, Rumänien, Italien und Tschechien registriert. Sie liegen zwischen 0,55 und 0,57. Was das konkret bedeutet, erläutert der IIASA-Forscher Wolfgang Lutz in einem Interview ("options" 2001): "In einigen Ländern wie Russland und Italien ist die Fruchtbarkeit so niedrig, dass die nächste Generation nur etwas mehr als halb so groß sein wird wie die jetzige. Auf mittlere bis längere Sicht bedeutet das extremes Altern der Bevölkerung und in einigen Ländern sogar starke Bevölkerungsrückgänge." Und Lutz rechnet vor, was in der EU passieren würde, wenn die derzeitige Konstellation von Geburten- und Sterberaten anhalten und keine Zuwanderung stattfinden sollte: Von derzeit 375 Millionen würde die EU-Bevölkerung bis 2050 auf unter 300 Millionen sinken. Lasse man den Computer weiterlaufen, so ergäbe das für 2200 nur magere 75 Millionen EU-Bürger und 2300 gar nur mehr 30 Millionen.

Keine Frage: Die Dinge werden sich nicht so entwickeln. Es wird zu einer Veränderung des Verhaltens und zu größerer Zuwanderung kommen. Diese Projektionen vermitteln jedoch einen Eindruck davon, welche Dimensionen der Einbruch der Geburtenzahlen angenommen hat. Denn ebenso wie überhöhte Fruchtbarkeit eine "Bevölkerungsexplosion" erzeugt, führt ein anhaltender Einbruch in der Bereitschaft, Kinder in die Welt zu setzen, zu einer sich beschleunigenden "Bevölkerungsimplosion".

Sie wird derzeit noch von der steigenden Lebenserwartung überdeckt. Aber schon in den nächsten Jahren ist mit Bevölkerungsrückgängen zu rechnen, insbesondere in jenen Ländern, die wie Japan, Ungarn und Lettland seit gut 50 Jahren eine "Unterfruchtbarkeit" zu verzeichnen haben. In Österreich (1961: 131.500 Geburten, 2000: 78.2000) und Deutschland ist diese Konstellation seit etwa 30 Jahren anzutreffen.

Die SWA-Studie versucht, die veränderte Geburtenfreudigkeit in Europa auf dem Hintergrund der Entwicklung der Familie nachzuzeichnen und greift dabei Überlegungen der französischen Soziologin Evelyne Sullerot auf: Die Kriegszeit habe zu einer Stärkung der Familie geführt. Sie sei eine Art Refugium in einer grausamen, lebensbedrohenden Umwelt gewesen. Daher hätten auch alle Verfassungen nach Jalta Ehe und Familie als Zelle der Gesellschaft anerkannt.

Schon im Krieg, vor allem aber danach setzte eine Entwicklung zu sehr früher Eheschließung - oft auf Grund vorehelicher Schwangerschaft - ein. Die Zahl der Unverheirateten sinkt, die jungen Paare emanzipieren sich zunehmend von der Großfamilie. Die Ehe hat Hochkonjunktur. In der Wiederaufbauphase spielt sich das Leben überwiegend im Raum der Familie ab. Hohe Geburtenzahlen füllen die vom Krieg gerissenen Lücken auf.

Mit der Normalisierung der gesellschaftlichen Situation verliert der Glaube an Bedeutung, das Zusammenleben wird zunehmend von psychologischen und psychoanalytischen Denkmodellen gesteuert. Erste Diskussionen setzen ein: Geburtenkontrolle, die Arbeit von Familienmüttern, die außerhäusliche Betreuung der Kinder werden Themen der Debatten. Das bisherige Rollenverständnis der Geschlechter gerät ins Kreuzfeuer der Kritik.

Ein Exportmodell

Ab Mitte der sechziger Jahre ist der Wiederaufbau nach dem Krieg beendet. An die Stelle von Güterversorgung tritt das Streben nach wachsendem Konsum. Der Freizeitbereich wird zum großen Wirtschaftsbereich. Kinder und Teenager werden als Märkte entdeckt und gepflegt. Die Familie wird demokratisiert. Im Umgang mit den Kindern nimmt die Permissivität überhand.

In den siebziger Jahren greift in Europa eine pessimistische Stimmung um sich (Atomkrieg, ökologische Probleme, Bevölkerungsexplosion...). Die Verhütung hält Einzug, die Abtreibung wird legalisiert, die Fruchtbarkeit sinkt. Frauen sind frei, den Augenblick ihrer Ehe und Mutterschaft zu bestimmen. Die Grenzen der Aufgabenzuteilung an Mann und Frau fallen. Die großen Herausforderung für alle winken in jenem Bereich, der gesellschaftlichen Fortschritt produziert. Familie erscheint als eine die Autonomie des Einzelnen einschränkende Einrichtung, die dem flexibleren Konzept der Partnerschaft Platz macht. Der Individualismus ist im Vormarsch. Autonomie ist angesagt. Soweit Sullerots Analyse kurzgefasst.

Sie legt den Schluss nahe, dass die demographischen Entwicklungen auf dem Hintergrund eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels zu verstehen sind. Geburtenzahlen, die nicht ausreichen, um ein bestehendes Bevölkerungsniveau zu erhalten, erscheinen somit als eine der Facetten jenes Lebenentwurfs, der die Menschen in den wirtschaftlich hoch entwickelten Regionen derzeit prägt.

Und alles deutet darauf hin, dass sich dieses Verhalten weltweit ausbreitet: Überall sind mittlerweile die Reproduktionsraten gesunken, auch wenn sie in einzelnen Regionen (vor allem in Schwarzafrika und Vorderasien) immer noch hoch sind. Werte unter eins sind aber keine Spezialität der industrialisierten Länder mehr. Sie treten bereits auch in Ländern der Dritten Welt auf: China (nach einer rigoros durchgezogenen Politik der Familienplanung), Thailand oder Singapur verzeichnen heute Werte von 0,8. Brasilien hat im Jahr 2000 die Grenze zur Unterfruchtbarkeit überschritten.

Zusammenfassend hält Hofmayer fest, dass "etwa um das Jahr 2005 bereits mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Ländern leben (wird), deren Geburtenzahlen zum Generationenersatz nicht ausreicht." Denn die "Unterfruchtbarkeit" habe sich "seit etwa 1960 in Form einer Innovations-Diffusion über die Erde ausgebreitet, ohne dass es in irgend einem Land der Erde bisher zu einer wirklichen Trendumkehr," gekommen sei.

Es spricht somit einiges dafür, dass der französische Demograph GérardFrançois Dumont recht hatte, als er 1995 feststellte, dass die eigentliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts nicht das exponenzielle Wachstum der Bevölkerung, sondern deren Alterung sein werde.

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