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Europa ist im Jahr 2000 in eine neue Phase eingetreten: Seine Bevölkerung ist auf Schrumpfen programmiert. Eine nachhaltige Sozialpolitik steht vor großen Herausforderungen.

Seit Montag steht es fest: Eine Pensionreform kommt. Heuer noch soll der Nationalrat die Abschaffung der Frühpension beschließen. Bis 65 zu arbeiten, wird künftig die Norm, vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben mit finanziellen Einbußen verbunden sein. Die in den letzten 50 Jahren um 14 Jahre gestiegene Lebenserwartung und damit die verlängerten Pensionszahlungen machen diesen Schritt erforderlich.

Zu geringe Fertilität

Es ist aber nicht nur die längere Lebenszeit, die in allen EU-Ländern das Pensionssystem unter Druck setzt, es sind auch die Folgen der seit Jahrzehnten sinkenden Geburten. Im Jahr 2000 habe die EU da eine Grenze überschritten, erläuterte letzten Freitag ein Team von Demografen des Internationalen Instituts für System-Analyse (IIASA) in Laxenburg. Jahrzehnte niedriger Fertilität haben in Europa die Weichen in Richtung Schrumpfen der Bevölkerung gestellt.

Beim jetzigen Stand der Dinge träte ein Rückgang selbst dann ein, wenn die Fertilität auf jenes Niveau anstiege, das für den Ersatz der gebärfähigen Frauengeneration reicht. Niemand rechnet allerdings damit, dass dieser Wert (206 Kinder auf 100 Frauen) in absehbarer Zeit erreicht wird. Denn derzeit liegt der EU-Durchschnitt bei 150. "Ein solches negatives Trägheitsmoment gab es in der Weltgeschichte bisher nicht," fasst Wolfgang Lutz, einer der IIASA-Forscher, zusammen. Neben der geringeren Bereitschaft, Kinder zu bekommen, diagnostizieren die Demografen einen weiteren Effekt, der zur geringen Fertilität beiträgt: das steigende Alter, in dem Frauen Kinder bekommen. In Österreich hat es sich seit 1984 durchschnittlich um zwei auf 28,4 Jahre erhöht. Allein dieser Effekt trägt 40 Prozent zur absehbaren Bevölkerungsschrumpfung im EU-Raum bei.

Welches Ausmaß diese haben könnte, schätzen die Demografen in Computer-Simulationen ab: 55 bis 144 Millionen weniger EU-Bürger (derzeit 375 Millionen) bis 2100, je nachdem, wie rasch es gelingt, das Gebäralter der Frauen zu stabiliseren.

Eine Spirale nach unten

So wie sich das Bevölkerungswachstum bei andauernd hohen Geburtenraten beschleunigt, findet auch beim Schrumpfen eine Akzeleration statt. Denn es rücken laufend kleinere Alters-Kohorten ins gebärfähige Alter nach. Wenn nun auch diese sich nicht selbst ersetzen, dreht sich die Spirale immer rascher nach unten. Bei Anhalten derzeitiger Trends errechnen die Demografen (so es keine Zuwanderung gibt): für 2100 eine EU-Bevölkerung von 186 und für 2200 gar eine von nur 75 Millionen.

Mindestens ebenso eindrucksvoll sind die Zahlen, die das Verhältnis von Pensionisten (Personen über 65) zu Erwerbstätigen (Personen zwischen 15 und 64) ausdrücken. Derzeit kommen auf einen Pensionisten vier Erwerbstätige. Bis 2050 dürfte sich diese Relation auf eins zu zwei oder weniger verschlechtern. Selbst unter der Annahme, dass in diesem Zeitraum 60 Millionen junge Zuwanderer den EU-Arbeitsmarkt verstärken, ändert sich an der Perspektive nur wenig. Diese Befunde der Demografen machen deutlich, dass die sozialen Errungenschaften Europas äußerst bedroht sind. Um diese auch nur halbwegs in die Zukunft zu retten, sind breit gestreut Maßnahmen notwendig. So wichtig Reformen des Pensionssystems sind, so wenig werden sie allein reichen.

Alles deutet darauf hin, dass eine Öffnung der Arbeitsmärkte im größeren Umfang erforderlich sein wird. Klar muss dabei sein, dass die im Westen entstandenen Lücken kaum mit Zuwanderern aus Osteuropa allein gefüllt werden können. Diese Länder sind nämlich noch stärker überaltert als die EU-15. Also wird man sich auf die Zuwanderung aus anderen Kulturräumen einzustellen haben. Dass deren Integration aber für alle Beteiligten eine enorme Herausforderung darstellt und die Gefahr sozialer Spannungen in sich birgt, sollte nicht blauäugig beiseite gewischt werden.

Wie die Daten zeigen, wird man auch mit Zuwanderung nicht das Auslangen finden. Sie sollte daher nicht gegen Anstrengungen zur Förderung von Familien ins Treffen geführt werden. Man wird über Maßnahmen nachdenken müssen, die es Paaren erleichtern, früher und mehr Kinder in die Welt zu setzen - wenn sie dies wollen.

Eine große Hürde

Hier dürfte die größte Hürde zu nehmen sein. Denn es zeigen zwar alle Umfragen, dass Familie in der Werteskala ganz oben steht. Fragt man aber nach der konkreten Umsetzung des Anliegens, wird deutlich, dass für 20- bis 30-Jährige eben "das Leben genießen" und "beruflich Karriere machen" mit Abstand vor "eine Familie gründen" kommt (Befragung in Oberösterreich 1998).

Eine Gesellschaft, die Zukunft haben will, wird jedoch nicht darum herumkommen, auch in Familienfragen auf Nachhaltigkeit zu setzen. Und das bedeutet Aufwertung des Kindes, Freude an Kindern, die Einsicht, dass es keine größere Aufgabe gibt, als Kindern ins Leben zu verhelfen - selbst wenn die Propagierung dieses Anliegens heute unter Ideologieverdacht steht.

christof.gaspari@furche.at

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