Zauberlehrlinge auf dem Zauberberg

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28. bis 30. Oktober: Österreichischer Wissenschaftstag auf dem Semmering zum Thema "Wissenschaft und Zukunft"

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28. bis 30. Oktober: Österreichischer Wissenschaftstag auf dem Semmering zum Thema "Wissenschaft und Zukunft"

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Taumelt die Menschheit wachsenden Problemen entgegen? Oder haben wir jene Entwicklungen, welche die Erde als Lebensraum, welche unsere heutige Welt der Arbeit oder welche Solidarität und Weltfrieden gefährden, einigermaßen fest im Griff? Können uns die Ergebnisse moderner Forschung Zuversicht geben? Oder lassen sie die Alarmglocken schrillen?

Alljährlich Ende Oktober laden die Österreichische Forschungsgemeinschaft und das Wissenschaftsministerium zum Österreichischen Wissenschaftstag ins Hotel Panhans auf dem Semmering ein, heuer ging es um das Thema "Wissenschaft und Zukunft". Fachleute aus halb Europa und den USA lieferten "Beiträge der Wissenschaften zur Bewältigung globaler Krisen", eine in dieser Vielfalt seltene Abfolge von Expertenmeinungen zu brisanten Fragestellungen, die von der Demographie bis zur Energieversorgung und von Fragen des Arbeitsmarktes und der "civil society" bis zu Versuchen, internationale Konflikte friedlich zu lösen, reichten.

Das Besondere an dieser Veranstaltung sind nicht nur die Themen und die Referenten, es ist die aus kompetenten Vertretern fast aller akademischen Disziplinen gebildete Teilnehmerschar, die nach den Vorträgen heftig darüber diskutiert - ob Sprachwissenschafter oder Techniker, ob Jurist oder Wirtschaftswissenschafter, ob Psychologin oder Theologin. Angesichts des weiten Themenspektrums des heurigen Wissenschaftstages hatten die wenigen anwesenden Medienleute diesmal mitunter die Genugtuung, von dem einen oder anderen Thema ein wenig mehr Ahnung zu haben als sich nicht in ihrer Disziplin bewegende Hochschullehrer.

Als Hauptredner zum Thema "Wissenschaft und Zukunft" warf der designierte Präsident der Europäischen Forschungsstiftung Reinder J. van Duinen, ein gelernter Physiker und Weltraumforscher aus den Niederlanden, einen optimistischen Blick in die Zukunft. Er erwartet ein zunehmend interdisziplinäres Vorgehen und wies genüßlich darauf hin, daß etwa die Hälfte der Wirtschaftsnobelpreisträger studierte Physiker seien. Zugleich warnte van Duinen vor der Versuchung der Wissenschaft, "zu viel vorherzusagen".

Da aber die Zukunft das Thema der Tagung war, blieben in den folgenden Referaten, mit mehr oder weniger Behutsamkeit und Vorsicht vorgetragen, die Prognosen nicht aus. Manche Problemdarstellungen wirkten nüchtern, andere bunt, manche akademisch, andere unterhaltsam. Kassandren kamen jedenfalls nicht zu Wort, daher wurden auch keine Horrorszenarien präsentiert oder diskutiert, allenfalls mischte sich ein wenig Skepsis in die Versammlung, wenn ein Redner allzu offensichtlich um das Versprühen von Optimismus bemüht erschien.

Steinalt und gesund?

So rechnet der zuletzt in Rostock lehrende amerikanische Demograph James W. Vaupel damit, daß im nächsten Jahrhundert die Lebenserwartung von Frauen auf 100 und jene von Männern auf 95 Jahre steigen wird, und all das bei zunehmend guter Gesundheit. Viele derzeit, 1999, geborene Mädchen, würden es auf ein "Leben in drei Jahrhunderten" bringen und erst im 22. Jahrhundert sterben. Vaupel sieht keine biologische Grenze der Lebenserwartung, Menschen könnten ohne weiteres auch 120 und mehr Jahre alt werden. Vaupel führte aus, daß selbst fleißige Leute, die 40 Jahre arbeiten, damit nur etwa 70.000 Arbeitsstunden leisten und damit nur zehn Prozent ihres Lebens arbeitend verbringen, ihre Kinder dürften, sollte die Lebensarbeitszeit nicht verlängert werden, sogar nur fünf Prozent ihrer Lebenszeit arbeiten.

Insgesamt erwartet Vaupel, daß sich die Menschheit, die gerade sechs Milliarden überschritten hat, bei neun bis zehn Milliarden einpendeln wird. Mit dem Wohlstand sinken die Geburtenraten. Es werden dann immer mehr Generationen am Leben sein, dafür wird es immer weniger Brüder und Schwestern geben. Ob eine solche Entwicklung - Vaupel erwartet zum Beispiel für Österreich bis zum Jahr 2050 einen Anstieg des Anteils der Über-60-Jährigen von 20 auf 35 bis 40 Prozent - wirklich zu Optimismus Anlaß gibt?

Manchmal bringen die unvermuteten Gäste die interessantesten Dinge mit. John F.B. Mitchell, Klimaforscher am britischen Hadley Centre in Bracknell, sprach statt des Deutschen Ulrich Cubasch über Klimaveränderungen und legte eine brandneue Broschüre seines Instituts vor. Fazit: Wenn es nicht gelingt, die Kohlendioxidemissionen zu stabilisieren, drohen bis 2080 eine globale Erwärmung um drei Grad Celsius, ein Absterben tropischer Wälder und Grasgebiete, Auswirkungen auf Wasserressourcen - drei Milliarden Menschen wären davon betroffen - und Landwirtschaft. Statt heute 13 werden etwa 94 Millionen Menschen pro Jahr unter Flutkatastrophen zu leiden haben, vor allem an Küsten im Süden und Südosten Asiens. Schließlich sind weltweit, vornehmlich aber in China und Zentralasien, 290 Millionen Menschen zusätzlich gefährdet, an der gefährlicheren Variante der Malaria zu erkranken. Die Empfehlung der Klimatologen: Die Kohlendioxidemissionen müßten bei 550 ppm (Teilchen pro Million) stabilisiert werden, eine Stabilisierung bei 750 ppm brächte nicht das gewünschte Ergebnis. Detail am Rande: Die Sterberate in den Großstädten gemäßigter Klimazonen würde aufgrund der Erwärmung eher sinken. Etwas mehr Todesfällen im heißen Sommer würden deutlich weniger Todesfälle im etwas weniger kalten Winter gegenüberstehen.

Hunger: Keine Lösung Im Detail mag man all diesen Zahlen mit Skepsis gegenüberstehen, in der Tendenz dürften die auf dem Semmering referierenden Forscher nicht falsch liegen. Auch nicht der Münchner Agrarexperte Winfried von Urff, der keinerlei Anzeichen dafür sieht, daß die Zahl der weltweit Hungernden und an Mangelerkrankungen Leidenden - allein in den Entwicklungsländern 840 Millionen Menschen - wirklich bis zum Jahr 2015 halbiert wird, wie es Ziel des Welternährungsgipfels von 1996 war. Oder der Hamburger Wirtschaftsforscher Vincenz Timmermann, der aufgrund einer Studie ausführte, daß zwar politische Freiheit in der Regel zu mehr wirtschaftlicher Liberalität führt, eine Lockerung der wirtschaftlichen Spielregeln aber keineswegs zu politischer Freiheit führen muß.

Timmermann war es auch, der meinte, in der Atmosphäre des Hotel Panhans, das sich gerne mit dem "Zauberberg" Thomas Manns vergleicht, fange man wirklich nach einem Tag zu hüsteln an. Vom Zauberberg ist es freilich auch nicht weit zum Denken an den Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird. Befindet sich nicht unsere Gesellschaft inklusive der Wissenschaft zunehmend in dieser Rolle? Werden wir uns angesichts etlicher hausgemachter, also vom Menschen verursachter oder zumindest verschärfter, Probleme am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen können?

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