Überbevölkerung - © Pixabay

„,Überzählig‘ sind immer die Anderen“

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Mit Geburtenraten wird seit jeher Politik gemacht – und Ideologie: Ein Gespräch mit Shalini Randeria, Sozialanthropologin und Rektorin des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen.

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Mit Geburtenraten wird seit jeher Politik gemacht – und Ideologie: Ein Gespräch mit Shalini Randeria, Sozialanthropologin und Rektorin des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen.

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Wieviele Kinder ein Paar bekommen will – und dann tatsächlich bekommt –, ist eine zutiefst persönliche Entscheidung. Doch sie wird nicht unabhängig von gesellschaftlichen Erwartungen oder gar Zwängen gefällt. Shalini Randeria hat diese bevölkerungspolitischen Dynamiken und die Diskurse dahinter intensiv beforscht. Wie konträr sie zur gleichen Zeit in verschiedenen Ländern verlaufen können, hat die Sozialanthropologin dank ihrer eigenen Biografie erlebt: In Washington DC geboren und in Indien aufgewachsen, studierte sie in Delhi, Oxford und Heidelberg und kam nach Professuren in Budapest, Zürich und Genf 2015 als Rektorin des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen nach Wien. Im Interview mit der FURCHE erzählt sie, warum sie „Überbevölkerung“ für eine Ideologie hält, wie Fertilität, Bildung und Armut zusammenhängen – und inwiefern ihre eigene Familie besonders ist.

DIE FURCHE: Frau Professorin Randeria, vergangenes Wochenende ist die Klimakonferenz in Madrid zu Ende gegangen – mit einem enttäuschenden Ergebnis. Doch manche Stimmen meinen, dass sämtliche Maßnahmen ohnehin vom globalen Bevölkerungswachstum konterkariert würden. Tatsächlich soll die Weltbevölkerung laut UNO-Prognosen von derzeit 7,8 auf 10,9 Milliarden Menschen im Jahr 2100 wachsen.
Shalini Randeria: Der Einfluss der Bevölkerungszahl auf den globalen Ressourcenverbrauch ist sicher ein Faktor, aber ich denke, dass er überzeichnet ist. Es macht in dieser Hinsicht kaum einen Unterschied, ob eine Frau in einem Slum in Bangladesch ein zweites Kind bekommt oder nicht – denn dieses Kind verbraucht nur einen Bruchteil der Ressourcen eines Kindes in New York oder London. Allein New York verbraucht an einem Tag so viel Strom wie ganz Afrika südlich der Sahara in einem Jahr! Auch die industrialisierte Agrarproduktion des Westens ist sehr viel schädlicher als die Subsistenzwirtschaft in vielen armen Ländern. Es ist also nichts gewonnen, wenn man Frauen in Ländern des globalen Südens dazu bringt, ein paar Kinder weniger zu bekommen – und zugleich den ökologischen Fußabdruck des Westens außer Acht lässt. Wir müssen hier in Europa und insbesondere in Amerika unseren Energieverbrauch verringern. Dass es heute manchmal immer noch heißt: „Ihr seid schuld mit eurem zweiten oder dritten Kind“ und nicht umgekehrt „Ihr seid schuld mit eurem zweiten oder dritten Auto“, ist von daher wirklich eine Doppelmoral.

Allein die Stadt New York verbraucht an einem Tag so viel Strom wie ganz Afrika südlich der Sahara in einem Jahr!

Shalini Randeria - © Foto: Tosca Santangelo
© Foto: Tosca Santangelo

DIE FURCHE: Sie haben in Ihrer eigenen Lebensgeschichte völlig gegensätzliche Bevölkerungspolitiken bzw. -diskurse erlebt. Können Sie davon erzählen?
Randeria:
Ich habe bei meiner Beschäftigung mit diesem Thema tatsächlich oft das Gefühl gehabt, in einer schizophrenen Welt zu leben. Während meiner Schulzeit in New Delhi in den 1970er Jahren hat die indische Regierung auf riesige Plakate affichieren lassen: „Eine kleine Familie ist eine glückliche Familie“ oder „Warte mit der Geburt des ersten Kindes, verzögere die zweite Geburt, verhindere die dritte“. Zehn Jahre später, als ich in Heidelberg promoviert habe, hat die Landesregierung Baden­Württemberg auf ebenso großen Plakaten mitgeteilt: „Kinder bringen mehr Freude ins Leben.“ Und als ich 1986 wiederum meine erste Stelle an der Freien Universität in Berlin angetreten habe, stand zu lesen: „Kinder machen glücklicher als Geld“ – eine Botschaft, die mir schon aus meinen Feldforschungen in indischen Dörfern bestens bekannt war. Den Umstand, dass es in unserem globalen Dorf so gegensätzliche bevölkerungspolitische Ziele gibt, hat Hans Magnus Enzensberger treffend mit dem Begriff der „demographischen Bulimie“ erfasst.

DIE FURCHE: Tatsächlich hat sich die Weltbevölkerung seit 1850 fast verfünffacht, entsprechend lange gibt es schon Warnungen vor einer „Überbevölkerung“ oder „Bevölkerungsexplosion“. Sie sprechen im Gegenzug von der „Ideologie der Überbevölkerung“ und betonen, dass die Diskussion darüber oft weniger mit Zahlen als mit Bewertungen zu tun habe.
Randeria:
Ja, und ich nenne Ihnen ein paar Beispiele: Die Niederlande sind eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt, trotzdem gilt das Land nicht als überbevölkert, genauso wenig wie die Schweiz, die auf Nahrungsmittelimporte angewiesen ist. Demgegenüber werden relativ dünn besiedelte afrikanische Länder als überbevölkert angesehen, ebenso Indien, das seine Bevölkerung selbst ernähren kann. Interessant ist auch, wie sich der Blick Europas auf den globalen Süden historisch verändert hat.

DIE FURCHE: Nämlich?
​​​​​​Randeria:
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert haben Kolonialmächte intensiv versucht, das Bevölkerungswachstum in den Kolonien zu stimulieren. Solange die asiatischen und afrikanischen Gesellschaften eine Quelle von Rohstoffen und billigen Arbeitskräften waren, die auch keine Gefahr verkörperten, nach Europa zu migrieren, gab es pronatalistische Interventionen: Belgische Kolonialbeamte, Missionare und Kupferminen-­Besitzer mühten sich ab, die Fertilität der Bevölkerung Zaires anzukurbeln, die deutsche Regierung war über niedrige Geburtenraten in Tansania besorgt – und die britische Administration über jene in Indien. Doch nach dem Ende der Dekolonisierung Mitte der 1940er Jahre hat man dieselben Gesellschaften plötzlich als überbevölkert wahrgenommen. Auch deshalb, weil man fürchtete, dass die bislang exportierten Rohstoffe nun dort für den eigenen nationalen Bedarf benötigt werden würden. Die Vorstellung von „Überbevölkerung“ steht also immer in einem geopolitischen Kontext.

In der Kolonialzeit war die deutsche Regierung über niedrige Geburtenraten in Tansania besorgt. Danach sprach man von Überbevölkerung.

Shalini Randeria - © Foto: Tosca Santangelo
© Foto: Tosca Santangelo

DIE FURCHE: Sie hat aber auch mit Fragen von „Identität“ zu tun – und der Sorge des „Aussterbens“ des „Eigenen“. In Osteuropa, wo die Bevölkerungszahlen teils dramatisch zurückgehen, gibt es laut Ihrem Kollegen Ivan Krastev eine „Panik zu verschwinden“ – was sich insbesondere nach 2015 in stärkeren Ressentiments gegenüber Geflüchteten und Migranten gezeigt hat. Eine Kampfvokabel, die damit arbeitet, ist jene des „Bevölkerungsaustausches“.
Randeria:
Dieser Begriff mit seinen rassistischen Untertönen, den man auch bei den „White Supremacists“ in den USA hört, geht von der Vorstellung aus, dass das Boot zwar zu voll sei, aber zu wenige Europäer oder weiße Amerikaner darin sitzen würden. Tatsächlich sind demographische Argumente nicht nur quantitative, sondern immer auch qualitative Argumente: Es geht nicht nur darum, dass irgendjemand „zu viel“ oder „zu wenig“ ist, sondern immer auch darum, wer „zu viel“ oder „zu wenig“ ist. Historisch wurde vor allem eugenisch argumentiert, heute eben ethnisch oder religiös. Im Zentrum steht das, was in der Demographie „differential fertility rates“ genannt wird – unterschiedliche Fruchtbarkeitsraten von unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen einer Gesellschaft. Und mit denen wird Politik gemacht.

DIE FURCHE: Inwiefern konkret?
Randeria:
In Indien geht es etwa immer um die höhere Fruchtbarkeitsrate von muslimischen Familien im Vergleich zu hinduistischen, in Israel um unterschiedliche Fertilitäten von unterschiedlichen Religionsgemeinschaften und in Ungarn um die Fruchtbarkeitsrate der weißen, vermeintlich reinen ungarischen Bevölkerung gegenüber den kinderreichen Roma. Es geht also immer um Minderheiten oder Migranten und ihre demographische Entwicklung im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft. „Zu viel“ oder „überzählig“ sind von daher immer die Anderen.

DIE FURCHE: Aber wie sind die von Ihnen genannten unterschiedlichen Fertilitätsraten unterschiedlicher Gruppen überhaupt zu erklären? Welche Rolle spielt hier etwa die Bildung von Frauen?
Randeria:
Es gibt eine universal gültige Regel: Je geringer die Bildung der Mutter, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine größere Anzahl von Kindern bekommt. Bildung – insbesondere jene von Frauen – ist jedoch für mich nicht primär ein Instrument der Bevölkerungskontrolle, sondern ein Gut an sich. Aber dazu kommen auch noch andere Faktoren, etwa kulturelle: In vielen Ländern gibt es eben Präferenzen für größere Familien als für kleinere. Auch Armut und höhere Säuglingssterblichkeit lassen die Fruchtbarkeitsrate steigen. Eine gute Sozialpolitik – gekoppelt mit Bildung – ist deshalb immer die bessere Maßnahme gegen hohes Bevölkerungswachstum als staatliche Zwangsmaßnahmen.

DIE FURCHE: Wobei die Diskussion darüber, ob Zwang oder Einsicht besser wirkt, schon jahrhundertealt ist, wie Sie betonen.
Randeria:
Das ist richtig. Der französische Philosoph und Aufklärer Condorcet hat schon 1795 darauf hingewiesen, dass „das Wachstum der Anzahl der Menschen über ihre Subsistenzmittel hinaus“ zu einer „stetigen Verringerung des Glücks“ führen würde – aber dass durch Vernunft und Bildung der Frauen eine bewusste und freiwillige Änderung des reproduktiven Verhaltens möglich wäre. Sein Gegenspieler, der Kleriker Malthus, glaubte hingegen, dass das Bevölkerungswachstum nur durch Zwang und Not gebremst werden könne. Heute wird diese Auseinandersetzung weitergeführt: Wie Condorcet schlägt etwa der indische Nobelpreisträger Amartya Sen Armutsbekämpfung und Bildung von Frauen als Mittel der Bevölkerungspolitik vor, während die Neomalthusianer vor allem auf das Verteilen von Verhütungsmitteln setzen.

Das ,Problem‘ liegt in der Nachfrage nach Kindern und nicht am Mangel an Kontrazeptiva. Eine gute Sozialpolitik ist also immer das beste Verhütungsmittel.

DIE FURCHE: Was spricht dagegen?
Randeria:
Der Punkt ist, dass das bloße Verteilen von Kontrazeptiva nicht nur einem reduktionistischen Menschenbild entspricht, sondern auch oft nicht zielführend ist. Denn es gibt hier keine einfache Korrelation. In Costa Rica werden etwa mehr Verhütungsmittel als in Japan benutzt, aber dennoch 1,5 Kinder pro Frau mehr geboren. Und auch in Indien, das 1951 als weltweit erstes Land eine staatliche Bevölkerungspolitik eingeführt hat, zeigt sich das: Sterilisationen sind zwar mit 90 Prozent heute die gängigste Methode der Geburtenkontrolle, doch trotzdem hat das nur wenig Einfluss auf die Geburtenrate, weil die Frauen sich erst sterilisieren lassen, wenn sie die gewünschte Anzahl an Kindern – besser gesagt an Söhnen – bekommen haben. „Der Wunsch nach einem Sohn ist der Vater vieler Töchter“, lautet ein Sprichwort in meiner Muttersprache. Das „Problem“, wenn es eines gibt, liegt also eher in der großen Nachfrage nach Kindern und nicht am mangelnden Angebot an Kontrazeptiva. Eine gute Sozialpolitik ist und bleibt also das wirksamste Verhütungsmittel.

DIE FURCHE: Sie betonen, durch Ihre Forschungen auch politisch wirken zu wollen. Mit diesem Wunsch stehen Sie in Ihrer unkonventionellen Familie in einer guten Tradition.
Randeria:
Ja, insbesondere Frauenbildung war bei uns immer wichtig. Meine Großmutter hat in Kalkutta die erste Schule für so genannte „unberührbare“ Mädchen gegründet. Und meine Urgroßmutter hat 1901 – zu einer Zeit, als Frauen an europäischen Hochschulen noch nicht einmal zugelassen waren – als eine der ersten indischen Frauen eine Universität absolviert. Sie war auch Mitbegründerin der ersten indischen Frauenorganisation und hat bei sich zuhause nicht nur Hochzeiten zwischen Mitgliedern verschiedener Kasten durchgeführt, sondern sich auch für die Wiederheirat von Witwen eingesetzt, was bei den höheren Kasten streng verboten war. Auch alle ihre fünf Töchter hatten einen Universitätsabschluss. Und um auf den Zusammenhang zwischen Frauenbildung und Fertilität zurückzukommen: Sie hatte als sehr gebildete und emanzipierte Frau insgesamt sieben Kinder und musste deshalb jedes zweite Jahr ihr Studium unterbrechen. Das war schon bemerkenswert.

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