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MIT ZWANG läßt sich keine Familie planen

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Indien ist heillos überbevölkert. Dieses Bild hat sich bei vielen westlichen Besuchern des Subkontinents eingeprägt. Wie empfinden diese Feststellung die Inder selbst?

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Indien ist heillos überbevölkert. Dieses Bild hat sich bei vielen westlichen Besuchern des Subkontinents eingeprägt. Wie empfinden diese Feststellung die Inder selbst?

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Slums, durch deren enge Gassen sich die Bewohner in einem zähflüssigen Strom wälzen, überfüllte Züge, aus deren offenen Türen Menschentrauben hängen; Großstadtstraßen, auf denen Fußgänger und motorgetriebene Gefährte aller nur denkbarer Arten in einem erbitterten Überlebenskampf gegen einander antreten; Menschenmassen überall. Es sind diese Bilder, die sich vielen westlichen Besuchern einprägen, wenn sie Indien besuchen. Doch wie empfinden es die Inder selbst? Ist das Land wirklich heillos überbevölkert? „Die Regierung hat die Überbevölkerung stets als Hindernis für die Entwicklung Indiens gesehen. Und die städtische Mittelklasse hat sich in den letzten Jahrzehnten dieser Ansicht angeschlossen. Es ist jene Schicht, die eine westlich geprägte Bildung durchlaufen hat, die vor allem fixe Gehälter, Pensionen und soziale Sicherheit genießt, und die also keine Kinder zur Altersvorsorge benötigt“, erklärt die indische Expertin für Entwicklungs- und Bevölkerungsfragen, Sumati Nair, im Gespräch mit der FURCHE. „Im Dorf hingegen besteht keine Wahrnehmung von Überbevölkerung, wie meine Studien gezeigt haben“.

PIONIERARBEIT

Dank seines stark von westlichem Denken geprägten ersten Premierminister, Jawaharlal Nehru, zählte Indien zu den Ländern der Dritten Welt, die am frühesten Geburtenkontrollprogramme einführten. Der 1952 verabschiedete Fünfjahresplan enthielt bereits ein Budget für Familienplanung. Seither stiegen die Investitionen im Bereich Geburtenkontrolle in jedem Fünfjahresplan beachtlich. Eine umfassende Infrastruktur mit mehr als 100.000 Zentren allein auf dem Lande wurde geschaffen. Und Indien wurde zum internationalen Versuchsgelände für Geburtenkontrolle und begleitende demographische Studien. 20 der 35 Millionen Dollar, die die amerikanische Ford Foundation von 1952 bis 1975 für Bevölkerungskontrolle ausgab, gingen an Indien. Die Weltbank investierte von 1971 bis 1988 28 Prozent ihres Bevölkerungsetats in das India Population Project.

Der Erfolg ist allerdings ausgeblieben. Von 1971 bis 1991 sank die Bevölkerungswachstumsrate lediglich von 2,22 auf 2,11 Prozent. Die Bevölkerung ist heute auf 900 Millionen angewachsen, täglich kommen 45.000 Menschen hinzu.

Für Indiens engagierte Frauengruppen kommt das Versagen der Bevölkerungspolitik nicht überraschend. Die von der Regierung erarbeiteten jährlichen Plansolls an Sterilisationen — wie überall in der Dritten Welt ist dies auch in Indien die weitaus häufigste Verhütungsmethode — sind ihrer Ansicht nach aus zwei Gründen zum Scheitern verurteilt: Sie gehen an den Bedürfnissen der Menschen völlig vorbei, und sie degradieren die Frauen, besonders die armen, zu beliebig manipulierbaren Objekten.

„Besonders die Frauen — auch die jenigen, die am Land leben — möchten verhüten, sie möchten vor allem die Abstände zwischen den Kindern besser planen. Sterilisieren lassen sie sich in der Regel erst, nachdem sie die drei, vier oder fünf Kinder oder die Anzahl von Söhnen bekommen haben, die sie möchten. Daraus erklärt sich auch die Divergenz zwischen den Sterilisations-Statistiken und der tatsächlichen Geburtenrate“, erklärt die indische Soziologin Shalini Randeria im FüRCHE-Ge- spräch. „Das Durchschnittsalter für Sterilisationen liegt bei 30 Jahren. Die Frauen heiraten aber jung und bekommen die Kinder zwischen 16 und 25 Jahren.“

Entwicklung ist die beste Pille, lautet 1974 bei der Weltbevölke rungskonferenz in Bukarest die Parole. In Indien verklang sie unbeachtet. Die Zentren für Geburtenkontrolle wurden Ende der siebziger Jahre euphemistisch in „Familienwohlfahrtzentren“ unbenannt. Doch der integrierte Ansatz — sprich die Verbesserung des Gesundheits- und Bildungswesens in Koppelung mit menschenwürdiger Familienplanung — fiel budgetären Zwängen zum Opfer. Im Zuge von Strukturanpassungsprogrammen wird das Gesamtbudget für die medizinische Versorgung gekürzt, die Ausgaben für Familienplanung werden erhöht.

„Auf dem Land gibt es in diesen Zentren oft keine Medikamente und Antibiotika. Es geht nur mehr um Sterilisation — ohne Aufklärung und ohne Nachsorge“, sagte Nair. „In den Dörfern hat sich eine gewaltige Wut gegen die Regierung breit gemacht. Es mehren sich die Berichte über Dörfer, die keinem Familienplaner mehr Zutritt gewähren wollen.“

Die Horrorszenen der Jahre 1975 und 1976, als die Regierung in Nordindien an die sieben Millionen Männer in Lagern zwangssterilisieren ließ, haben sich seither nicht wiederholt. Doch im kleinen spielt sich die Tragödie Tag für Tag in zahllosen Dörfern ab. Sterilisiert werden heute vor allem Frauen. Das medizinische Personal steht unter einem gewaltigen Leistungsdruck. Gelingt es nicht, die Plansolls an Sterilisationen zu erreichen, droht eine Lohnkürzung. Also werden Statistiken gefälscht und den Frauen in den Dörfern immer neue, zumeist leere, Ver sprechungen gemacht. „Für eine arme Frau auf dem Land ist ein Kreditangebot von 5.000 Rupien (1.700 Schilling) ein großer Anreiz für eine Sterilisation. Manchmal wird den Leuten auch Land versprochen“, sagt Frau Nair. „Von den 5.000 Rupien erhalten sie dann nach Streitereien vielleicht 1.000, aber das Stück Land hat meines Wissens noch niemand erhalten.“

Noch viel schlimmer aber ist für unaufgeklärte Dorfbewohner die bittere Erkenntnis, daß Sterilisation nicht reversibel ist. „Viele lassen sich wegen der Anreize sterilisieren, wenn materielle Not es gebietet. Wenn aber dann ihre Kinder mangels medizinischer Versorgung früh sterben und die Eltern draufkommen, daß sie keinen weiteren Nachwuchs mehr haben können, ist ihr Wut natürlich grenzenlos“, sagt Nair.

Die Regierung scheint aus 40jähriger Erfolglosigkeit im Bereich Bevölkerungskontrolle nichts gelernt zu haben. Der jüngste Expertenbericht, der dem indischen Parlament als Grundlage für neue Gesetzesmaßnahmen dienen soll, befürwortet ein noch strikteres Anreiz- und Sanktionsregime zur Reduktion der Geburtenzahlen. „Wenn man die Geburten aber wirklich senken will, müßte man mehr in den Gesundheit- und Bildungssektor, in ökonomische und soziale Sicherheit investieren“, ist sich Randeira sicher.

Die städtische Mittelschicht ist landesweit der Beweis dafür, wie sehr diese Faktoren, vor allem auch ein höheres Bildungsniveau der Frau, zu einem Absinken der Gebur tenrate führen. „Die Mütter drängen ihr Töchter zur Verhütung,“ weiß Nair aus zahlreichen Studien. Dabei werden heute verschiedenste Verhütungsformen gewählt, auch die Pille, die, so Nair, am Land lange in Verruf war. Sie erlaube einer Frau, vor-und außereheliche Beziehungen zu haben, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, war die gängige Meinung.

Eine öffentliche Diskussion über Verhütung oder Abtreibung wie in Europa hat in Indien aber nie stattgefunden. Es gibt auch keine dem Vatikan gleichzusetzende Autorität, die unanfechtbare moralische und ethische Dogmen vorgibt. Der Hinduismus als komplexes Gebäude unterschiedlichster Glaubensvorstellungen ist mit dem Christentum nicht vergleichbar. Statt einer strengen geistlichen Hierachie gibt es zahllose regionale Autoritäten, doch auch sie haben sich in die Bevölkerungsdiskussion nicht eingemischt.

VORBILD KERALA

Unüberhörbar haben sich indes radikale Hindu-Organisationen :u Wort gemeldet. Die Hindus, argumentieren sie, würden im Gegensatz zu den Muslimen eifrig Familienplanung betreiben. Damit bestehe die Gefahr, daß die Muslimen eines Tages die Mehrheit im Land stellen — ein absurdes Argument, bedenkt man, daß die Hindus heute 85, die Muslimen nur zwölf Prozent ausmachen.

Weit mehr Aufsehen als die Entwicklung der städtischen Mittelschicht hat aber das kleine südliche Bundesland Kerala erregt. Noch heute zählt es zu den ärmsten Regionen Indiens. Doch eine Reihe kommunistischer Regierungen hat umfassende Reformen in den Bereichen Landwirtschaft, Soziales und Bildung durchgeführt. Heute hebt sich Kerala durch die hohe Alphabetisierungsrate der Frauen und ihren hohen gesellschaftlichen Status ab. Die Basisgesundheitsfürsorge ist flächendeckend, die Säuglingssterblichkeit liegt mit 17 pro 1.000 markant unter dem gesamtindischen Schnitt von 89 pro 1.000. Und die Geburtenrate hat 1991 1,31 Prozent erreicht.

Mit dem besten Beweis vor Augen, wie es anders gehe, setze die Zentralregierung in Delhi trotzdem weiter auf Geburtenkontrollprogramme, klagt Soziologin Randeira.

Die Autorin ist

Indien-Expertin und Redakteurin, des „Standard*.

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